Kein zurueck mehr
hättest du sonst machen können?«, frage ich und hoffe auf eine Antwort, die Sinn ergibt.
»Ich hätte den Dreckskerl umbringen können.«
Ich beobachte, wie sein Atem immer schneller ausströmt und in kleinen Wölkchen durch die Luft schwebt. Es kommt mir vor, als würde ich einen Lebensmüden überreden, vom Dach herunterzuklettern. Ich überlege mir meine Worte genau. »Dann wärst du jetzt im Gefängnis.«
»Ja, und Mom wäre draußen und du wärst draußen und ich würde nicht die Hälfte der Zeit damit zubringen, sie zu hassen, und die andere Hälfte damit, dich zu hassen, weil du noch mit ihr mailen kannst.«
Ich presse meine Zähne aufeinander und verkneife mir zu fragen, warum er nicht wieder Kontakt mit ihr aufnimmt. Ich blicke nach unten und versuche, meinen Schuh in den Felsboden zu graben.
»Sie redet die ganze Zeit von dir, Christian. Sie will wissen, wie es dir geht.«
»Dann kann sie ihn ja verlassen.«
Ich hebe den Kopf und sehe ihn an. Jetzt kapiere ich. »Du hast ihr ein Ultimatum gestellt? Du hast ihr gesagt, du willst nichts mehr von ihr hören, wenn sie ihn nicht verlässt?«
»Ich hab mir all diese Lügen ausgedacht. Ich hab ihr all diese ausweglosen Situationen ausgemalt, um sie dazu zu bringen, zu mir zu kommen.«
»Und sie ist trotzdem nicht gekommen?« Ich hab immer gedacht, für Christian, ihr »goldenes Kind«, würde sie alles tun.
Er hebt die Hände und tut, als würde er sich suchend nach ihr umsehen.
»Ein Wunder, dass ich nicht aufgegeben habe, nicht aufgehört habe, ihr Geld zu schicken. Sie hat mir immer wieder versichert, dass sie ihn verlassen wird, und dann … nichts. Wenn sie es wirklich vorgehabt hätte, dann hätte sie es doch längst getan.«
»Christian«, sage ich und hole tief Luft, »sie wird in neununddreißig Tagen hier sein. Sie hat es mir versprochen. Thanksgiving.«
»Sie hat es dir versprochen ? «
Ich nicke.
In Christians Gesicht spiegeln sich so viele verschiedene Gefühle in schneller Abfolge, dass es aussieht, als fahre ein Zug mit aufblitzenden Lichtern vorbei. Er setzt sich langsam hin. Ich gehe zu ihm hinüber und setze mich hin, die Beine über dem Abgrund baumelnd. Schweigend starren wir hinaus zu den Ballons, während er versucht, seine ganze, auf Schuldgefühlen errichtete Welt zurechtzurücken.
»Er wird ihr nachkommen«, sagt er.
»Wenn er sie finden kann. Er wird nicht darauf kommen, sie hier zu suchen. Wenn sie nur den Absprung schafft, wird sie einfach abtauchen.«
Er nickt.
Die Sonne hat die Bergwand erklommen und ich beobachte, wie sich der blaue Fels unter mir weiß färbt, als das Sonnenlicht uns endlich erreicht. Die schrägen Strahlen erwärmen meine Beine.
Schließlich sagt er: »Sieht so aus, als könnte sich Mirriam wohl bald selbst ein Bild von unserer Familie machen.«
»Das wird nicht reichen, um zwischen euch beiden wieder alles ins Lot zu bringen.«
Er schüttelt den Kopf. »Ich weiß. Ich werde ihr von New York erzählen. Es war gar nicht so schwer, darüber zu reden.«
»Sag Bescheid, wenn du eine weitere Story einüben willst. Ich kenn sie jetzt alle.«
»Mein Gott, du bist echt ein Klugscheißer.«
Ich grinse und er boxt in die Luft zwischen uns.
»Neununddreißig Tage also?«, sagt er. »Du zählst wohl den Countdown?«
»Die Stunden oder Minuten weiß ich nicht.«
Er lächelt. »Das liegt nur daran, dass du nicht weißt, um welche Uhrzeit sie aufbricht.«
»Also, wer ist hier der Klugscheißer?«, sage ich. Ich sehe den Abhang hinunter. Unter uns bewegt sich etwas. »Christian, ist das ein Bär?«
»Jo.«
Christian hält mich am Ellenbogen fest, als ich mich mit dem Oberkörper über die Felskante beuge und die dunkle Gestalt beobachte, die da unter uns entlangtrottet, die Schnauze schnüffelnd am Boden.
»Du bist nicht mehr in Chicago, Kröte. Und jetzt komm.« Er zieht mich von der Kante weg und wir kehren zu unserem Platz auf dem breiten, flachen Fels zurück.
Er greift nach der Thermoskanne, schenkt noch etwas Kakao in den Becher und reicht ihn mir. Kein Zögern. Kein »Das ist mein Becher und das ist deiner«. Ich umfasse das warme Metall mit meinen Händen, halte den Becher schräg und lasse den Kakao in meinen Mund laufen.
Kapitel 17
Noch ein Fußballspiel verloren. Unser Punktestand: 0 : 5 . Wir brauchen unbedingt einen neuen Torwart. Nach der Standpauke vom Coach knabbere ich meine Mais-Chips und versuche, in den zwanzig Minuten, die mir nach dem Duschen und vor der Schicht im
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