Kein zurueck mehr
solche Arbeit ist doch nicht das Richtige für ein hübsches junges Mädchen wie dich –, und Dakota stand da und schluckte das alles. Als ich mich einmischte, gab die Frau sich ganz zuckersüß.
»Ja«, sagt sie.
»Hat sie dich wieder blöd angemacht?«
»Sie ist einfach eine Verrückte mit einer Weltanschauung von gestern.«
»Du solltest dir von der nicht alles gefallen lassen. Sag ihr einfach, sie soll die Klappe halten«, sage ich.
»Ich lass mir ja auch nicht alles gefallen, aber ich will auch meinen Job behalten – du weißt doch, den Job, den mein Vater mir besorgt hat.«
»Ach, das ist Robyn doch egal.«
Sie schüttelt den Kopf. »Nein, das ist es nicht. Hat sie selbst gesagt, als ich hier angefangen habe.«
»Aber inzwischen ist es ihr egal. Als ich mein Vorstellungsgespräch hatte, hat sie dich als ›Muster-Buchhändlerin‹ bezeichnet. Außerdem, wenn Robyn versucht, dir einen Strick daraus zu drehen, stehe ich dir bei.«
Sie stellt die Flasche ab. Ich sehe sie aus dem Augenwinkel an und bemühe mich, nicht den Kopf zu bewegen.
»Das ist sehr großzügig von dir, aber ich kann mich schon selber wehren«, sagt sie.
»Anscheinend nicht.«
»Hey. Ich weiß ja zu schätzen, dass du mir neulich zu Hilfe gekommen bist, aber sag mir nicht, wie ich mein Leben zu leben habe.«
Ich frage mich plötzlich, was passieren würde, wenn ich es mir mit ihr verscherzen würde und sie mein Haar so lassen würde – halb mein Dad, halb mein Bruder. Ich habe keine Lust auf einen Yin-Yang-Look. »Okay. Sorry. Wollte ja nur helfen.«
Sie nimmt das Haarfärbemittel und macht weiter. »Hast du … hast du dich noch nie von jemandem angreifen lassen?«
»Nicht wirklich.«
Lügen kommen mir so leicht über die Lippen, dass ich antworte ohne nachzudenken. Dann frage ich mich, wen ich hier eigentlich beschützen will. Wen habe ich jemals beschützt? Ich war gewohnt zu lügen, weil das bei uns so gemacht wurde. Dieses Weil das so gemacht wurde klingt jetzt nicht mehr so überzeugend. Verdammt, ich hab aufgemuckt, um meiner Mutter die Prügel abzunehmen, weil das so gemacht wurde.
»Nein … doch.« Meine Hände fangen an zu zittern. »Von meinem Dad.«
»Das ist was anderes«, sagt sie. »Eltern sind nie zufrieden. Wenn es nicht deine Kleidung ist, dann sind es deine Zensuren. Wenn es nicht deine Zensuren sind, dann sind es deine Freunde. Ist dir kalt?«
»Hab kein Hemd an.« Ich frage mich, ob ich jemals aufhören werde zu lügen.
»Einen Moment mal. Wo ist eigentlich dein Vater? Ich hab in eurer kleinen Wohnung weder deinen Vater noch deine Mutter gesehen.«
»Er ist in Chicago.«
Als sie nachfragt, sage ich Nein, er ist nicht geschäftlich dort; er lebt dort immer noch.
Die Flasche wird wieder langsamer. »Dann lassen sich deine Eltern also scheiden? Seid ihr deshalb hierhergezogen?«
»Nein, sie sind noch zusammen.«
»Sie ist von Chicago hierhergezogen, aber sie will sich nicht scheiden lassen?«
Ich spüre, dass sich das Knäuel aus Lügen bald auflösen wird. Ich will es aufribbeln. Warum dann nicht am Faden ziehen? Ich denke an das verschlossene Mädchen, von dem Christian neulich Abend erzählt hat. Ich denke daran, dass ich Christian vorwerfe nicht zu reden, aber niemand in meinem neuen Leben auch nur den Namen Lauren gehört hat. Wenn ich mich ändern will, ist das die Chance?
»Mein Bruder und ich wohnen alleine hier. Meine Mom will in« – mir wird bewusst, wie neurotisch ich klingen werde, wenn ich jetzt sage in vierunddreißig Tagen – »zu Thanksgiving nachkommen. Sie hat ihn nicht verlassen. Noch nicht.«
»Sie hat dich hierhergeschickt, um bei deinem Bruder zu leben?«, fragt sie.
Ich schweige. Sie auch. Es ist, als hätte jemand für einen Moment die Pausentaste gedrückt. Ich möchte mich umdrehen und sie ansehen, aber gleichzeitig will ich meinen Kopf nicht bewegen.
»Jace«, sagt sie schließlich. »Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem wir uns zum ersten Mal getroffen haben?«
»Ja.«
»Da hast du erzählt, du hättest einen Autounfall gehabt.«
»Ja«, sage ich.
»Aber war das … Jetzt gerade, hast du das wörtlich gemeint? Dass dein Vater dich im wahrsten Sinne des Wortes angegriffen hat?«
Ich rede mir zu, dass ich schon mit ihrer Reaktion zurechtkommen werde, wie auch immer sie ausfallen wird. Sie könnte zum Beispiel die Flasche abstellen, die Arme verschränken und mir die Fragen stellen, die ich mir selbst die ganze Zeit stelle.
»Wie konntest du deine Mutter
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