Kein zurueck mehr
er.
»Du weißt, dass ich das so nicht meine. Hat er je mit dir über Chicago geredet? Dir von dem Abend erzählt, an dem er abgehauen ist?«, fragt sie.
»Das muss er gar nicht. Ich weiß Bescheid.«
»Nein, das weißt du nicht. Wir haben beide keinen blassen Schimmer, wie sein Leben in den letzten fünf Jahren gelaufen ist. Es ist nur angenehmer für dich zu glauben, dass du Bescheid weißt, damit du es weiter verdrängen kannst.«
»Nein, ich gebe ihm nur den Freiraum, den er braucht. Wenn er so weit ist, und nicht eher, wird er reden. Es ist nicht fair, ihn zu drängen, ihm meinen Zeitplan aufzuzwängen, wenn es darum geht, sich wieder zu fangen.«
Ich stehe auf und mein Fuß protestiert mit pulsierendem Schmerz. Ich trete auf den Flur. »Habt ihr euch meinetwegen getrennt?«
Im Handumdrehen steht Christian vor mir und schirmt Mirriam ab.
»Nein«, sagen sie beide gleichzeitig.
»Geh wieder rein«, sagt er.
Ich gucke an seiner Schulter vorbei zu Mirriam. »Das ist nicht richtig. Wie kannst du ihm das antun, wenn er sich dir so geöffnet hat?«, sage ich.
Er dreht mich an den Schultern herum, schubst mich zurück in die Wohnung und entschuldigt sich bei Mirriam, bevor er die Tür hinter sich schließt.
»Mach das ja nie wieder. Was zwischen Mirriam und mir passiert, ist nur etwas zwischen ihr und mir. Du hältst dich da raus. Verstanden?«
»Aber sie ist nicht –«
Er lässt meine Schultern los, hebt warnend einen Finger und wartet, bis ich den Blick senke. Er verschwindet im Schlafzimmer. Ich versuche etwas anderes zu sehen als Weiß. Vor meinem Gesicht befindet sich eine Tür, das weiß ich. Etwas Weiches trifft mich am Kopf und fällt dann auf den Boden: Joggingklamotten.
»Zieh die an«, sagt er.
»Christian, ich habe mir meinen Fuß –«
»Du wolltest doch wissen, wie ich es mache. Wie ich ruhig bleibe, selbst wenn ich so angepisst bin, dass ich dir meine Faust in den Magen rammen könnte.«
Ich blinzele überrascht. Faust in den Magen rammen? Wessen Sprache ist das? Bestimmt nicht die meines Bruders. Mein unerschütterlicher Bruder.
Er geht zurück in sein Zimmer und ich ziehe mir die Shorts und das T-Shirt an. Mein Fuß ist schon angeschwollen, aber ich zwänge ihn trotzdem in meinen Schuh.
Er kommt zurück, ebenfalls in seiner Sportkluft.
»Warst du heute nicht schon mal laufen?«, frage ich.
»Auf geht’s.«
Wir stehen ungefähr zwei Blocks von unserem Wohnhaus entfernt auf einem ausgedörrten Feldweg neben einem eingezäunten Golfplatz. Die Dämmerung hat den Rasen in einen grünen See verwandelt; die Grashalme verschwimmen zu einer einzigen dunklen Fläche. Die Nachtluft schneidet in meine nackten Arme und ich frage mich, ob Christian mir ein ärmelloses Shirt zugeworfen hat, um mich zusätzlich zu bestrafen. Er selbst trägt ein langärmliges Shirt.
»Los«, sagt er und gibt mir mit seiner Schulter einen Schubs.
Ich fange an zu joggen, trotz meines protestierenden Zehs. Christian joggt neben mir; ich beobachte, wie er seinen Rhythmus findet. Ich weiß, dass er kleinere Schritte macht, um sich meinem Tempo anzupassen. Ich öffne den Mund, um zu erklären, aber er schneidet mir das Wort ab.
»Nicht reden«, sagt er. »Nur hören.«
Aber er sagt gar nichts. Er starrt nach vorn, sieht mich nicht an. Ich beschleunige mein Tempo, bis ich an ihm vorbeisprinte. Ich gucke zurück und er folgt in seinem eigenen Tempo. Als ich stehen bleibe, zieht er an mir vorbei, immer noch schweigend. Ich hole ihn wieder ein und behalte sein gleichmäßiges Tempo bei. Schließlich weiß ich nicht, wie lange wir laufen werden. Wahnsinn, dieser Typ läuft 42 Kilometer zum Spaß, aber anscheinend ohne ein Wort zu reden.
Was gibt es dann bitte zu hören?
Eine halbe Meile später fange ich an es zu hören: das Auftreffen meiner Füße in einem gleichmäßigen Rhythmus; das Ein- und Ausströmen meines Atems; das Singen des Windes in meinen Ohren. Ich werfe einen Blick zu Christian. Er ist wie hypnotisiert vom Horizont. Ich konzentriere mich auch darauf und beobachte, wie der Himmel sich langsam in ein sanftes Schwarz färbt.
Alles verschwindet aus meinem Kopf: die vergessenen Fußballschuhe; der Streit mit Eric; Mirriams Gesicht ohne die Ruhige-Lehrerin-Maske; Moms Hand, die meine nicht berührt, als sie mir verspricht nachzukommen; Lauren, die auf dem Boden zusammenbricht … Alles verblasst … alles, was ich höre, sind meine Schritte, mein Atem, der Wind … alles, was ich sehe, ist das wechselnde
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