Keine Angst vor Anakondas
zu dröhnen. Die Actinistia sind allerdings nicht in der Lage aufzutauchen und nachzusehen, was da oben los ist. Die Druckverhältnisse an der Meeresoberfläche würden sie umbringen. Doch selbst wenn sie an die Oberfläche paddeln könnten, sie würden es nicht machen. Sie wollen lieber stoisch in der Tiefe verbleiben, perfekt angepasst an ein ruhiges, geradliniges Leben. Allerdings sind sie besorgt, weil in letzter Zeit einige von ihnen unter mysteriösen Umständen nach oben gerissen wurden, was sie mit den Aktivitäten hoch über ihnen in Zusammenhang bringen. Was geschieht da bloß?
Miss Latimers Gespür für Fisch
1938 holte ein Fischtrawler in der Nähe der Mündung des Chalumna Rivers im Indischen Ozean vor Südafrika seine Netze ein. Inmitten des Fangs zappelte ein gut eineinhalb Meter langer bläulicher Fisch. Die Matrosen des Trawlers standen um den Fisch herum und staunten nicht schlecht. So einen eigenartigen Fisch mit fleischigen Flossen hatten sie noch nie gesehen. Als die junge Zoologin Miss Marjorie Courtenay-Latimer vom örtlichen Naturkundemuseum den Fang auf den Docks von East London sah, spürte sie sofort, dass es mit diesem Fang eine ganz besondere Bewandtnis hatte. Der Fisch kam ihr irgendwie »fishy« vor. Von anderen Fischen unterschied er sich unter anderem durch den Besitz von muskulösen Flossen, einer zweiten Rückenflosse und einem auffällig quastenförmigen Schwanzflossenlappen. Kräftige Schuppen ummantelten das Kraftpaket. Seine lebhafte Blaufärbung veranlasste Latimer, von dem schönsten Fisch, den sie jemals gesehen habe, zu sprechen. In der Tat sieht er sehr urtümlich aus, so als wäre er aus den Tiefen der Zeit emporgestiegen. Miss Latimers Gespür für Fisch war goldrichtig gewesen.
Schon bald zog der merkwürdige Fisch die Aufmerksamkeit vieler Wissenschaftler und der internationalen Presse auf sich. Die Experten trauten ihren Augen kaum, als sie erkannten, dass es sich bei dem Fang gewissermaßen um ein lebendes Fossil, einen Quastenflosser, handelte.
Der Fund dieses urtümlichen Fisches war sensationell und löste weltweit Begeisterung aus. Mit ihm war ein lebender Vertreter der längst für ausgestorben gehaltenen Actinistia ins Netz gegangen. Niemand, nicht einmal der fantasiebegabteste Wissenschaftler, hätte es für möglich gehalten, jemals einem Quastenflosser aus Fleisch und Blut zu begegnen. Der Zoologe Professor J. L. B. Smith von der Universität in Grahamstown in Südafrika brachte es auf den Punkt: »Ich wäre kaum erstaunter gewesen, wenn mir auf der Straße ein Dinosaurier begegnet wäre.«
Wie hatte er über 300 Millionen Jahre praktisch unverändert überleben können? Vor etwa 65 Millionen Jahren war ein riesiger Meteorit auf die Erde gekracht und hatte Zerstörungen unvorstellbaren Ausmaßes über die Lebewesen gebracht. Ein riesiger Feuersturm verbrannte die Erde. Die Druckwelle der Explosion fegte über alles hinweg und ließ Bäume umknicken, als wären sie Streichhölzer unter einer Planierraupe. Asche schirmte über Jahre als undurchlässiger Schleier in der Atmosphäre das Sonnenlicht ab. Und als wäre damit nicht schon genug Schaden angerichtet, wurde es auch noch ungemütlich kalt. Der nukleare Winter dürfte vielen Tierarten endgültig den Rest gegeben haben. In der Tiefe des Meeres aber, da gab es einen Knochenfisch, den das Chaos da oben nur wenig interessierte. Sicher, die Druckwelle im Wasser war ganz schön heftig gewesen. Auch Beutefische waren nicht mehr so zahlreich vorhanden wie gewohnt. Das nahm er zur Kenntnis und lebte weiter wie bisher, gemäß dem Motto: business as usual.
Professor Smith nannte den Fisch zu Ehren von Miss Latimer, die den sensationellen Fund der Wissenschaft zugänglich gemacht hatte, Latimeria . Für den Artnamen ließ er sich vom Fluss Chalumna inspirieren, vor dessen Mündung der Quastenflosser gefangen worden war. Damit trägt der Fisch den lateinischen Namen Latimeria chalumnae . Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus wurde Marjorie Courtenay-Latimer auf diese Weise unsterblich gemacht. Denn eine regelkonforme Namensgebung ist nach den zoologischen Nomenklaturregeln für die Ewigkeit gedacht.
Miss Latimers urtümlicher Knochenfisch ist allerdings nicht das »missing link«, also nicht das unbekannte Bindeglied von den Fischen zu den Landwirbeltieren. Die Landwirbeltiere entwickelten sich aus der nahe verwandten Schwestergruppe, den oben erwähnten Rhipidistia. Unser heutiger Quastenflosser ist »nur« der
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