Keine Angst vor Anakondas
beginnt jedoch in der Nähe Gras zu fressen. Bis zu Uwe Müller dringen die raschelnden, zupfenden und kauenden Geräusche über das stille Wasser vor. Das kann er nicht auf sich sitzen lassen und erteilt dem Nager eine klare Ansage: »Du sollst hier nicht Gras fressen, sondern den Baum fällen!« Der gescholtene Biber verschwindet daraufhin erst einmal ins Wasser und bleibt verschollen. Uwe Müller steht noch eine Weile nachdenklich am See und geht dann langsam zurück in die Blockhütte.
Missmutig gehen die Filmer kurz vor Sonnenaufgang das letzte Mal zur Kamera, um das Band zu wechseln. Schlagartig werden sie wach: In der landschaftlichen Szenerie vor ihnen hat eine Veränderung stattgefunden! Es fehlt ein Baum. Der Baum! Als sie näher kommen, sehen sie nicht nur den gefällten Baum vor sich liegen, sondern jede Menge angenagtes Holz und Späne. Aufgeregt, mit klopfendem Herzen, spulen sie die Filmbänder zurück und starren aufs Display. Was sie sehen, können sie vor Glück kaum fassen. Ihnen ist danach, die ganze Welt zu umarmen. Die Biber haben den Baumstamm innerhalb von zehn Minuten umgelegt. Die perfekten Aufnahmen zeigen die Biber bei ihrer Arbeit. Und auch die zweite Kamera, die oben an einem Ast befestigt gewesen ist, liefert eindrucksvolle Bilder. Es ist vollbracht! Mit der allerletzten Chance haben sie ihre Schlüsselszene für den Film bekommen.
Später, im fertigen Film, sind es gerade mal 30 Sekunden, die von diesem Material übernommen werden, eine Bandlänge, die sich schon fast mit einem Zollstock messen lässt. Annähernd 100 Stunden über mehrere Wochen hinweg hatte es das Team am See jedoch gekostet, um genau diese eine Szene zu drehen. All die Mühen sind nicht umsonst gewesen!
3
Tauchfahrt ins Bodenlose
03:31 Uhr
Stille kehrt ein. Die dunkle Nacht ist vom Zirpen der Grillen und Heuschrecken erfüllt. Die Anakonda in der Mitte unseres kleinen Camps wirkt sehr entspannt. Zwischenzeitlich hat sie sich etwas enger zusammengerollt. Sie atmet ruhig und erstaunlich langsam. Um uns herum nächtliche Geräusche. Vereinzelt ist das metallische Klicken kleiner Frösche zu hören. Gelegentlich sausen Früchte von einem großen Baum durch die Blätter. Ziemlich nah erklingt das unverwechselbare Getöse einer Horde von Brüllaffen, das kilometerweit zu hören ist. Jede Nacht erschallen ihre Rufe aus unterschiedlichen Richtungen, mal mehr, mal weniger laut, je nachdem, wie weit sie entfernt sind. Sie scheinen überall im Dschungel zu sein. Einen einzelnen Affen kann man dabei nicht heraushören, sie brüllen im Horden-Kollektiv. In der letzten halben Stunde habe ich fünf Gruppen aus fünf verschiedenen Richtungen ausgemacht.
»Das klingt immer wie eine Sturmböe, die anschwillt und dann wieder abebbt«, bemerke ich in das monotone Dauergezirpe der Heuschrecken hinein, das zwischen zwei Brüllaffen-Chorälen zu hören ist.
»Für mich hören sich die Brüllaffen an wie ein Chor brünftiger Hirsche«, sagt Jörg.
Lachend nehme ich zur Kenntnis, dass er mal wieder den Nagel auf den Kopf getroffen hat, und frage gleich nach: »Was meinst du, brüllen die nur aus purer Lust an der Freude, oder teilen sich die einzelnen Gruppen auch etwas mit?«
»Zumindest weiß so jede Gruppe, wo die anderen sind. Es ist ein akustisches Abgrenzen der Territorien und bedeutet so viel wie: Wagt es ja nicht, uns zu nahe zu kommen, ansonsten gibt’s mächtig Prügel für euch! Bestimmt sind die Affen auch in der Lage, an den Nuancen des Gebrülls einer benachbarten Horde mehr über deren Geschlechterverhältnis und Gruppenstärke zu erfahren. Wenn die Fischer-Chöre singen, weiß auch jeder, dass es viele Sänger sind. Und wenn die Affen gesund und glücklich sind, ist das bestimmt für andere Gruppen ebenfalls wahrnehmbar. Das ist bei uns Menschen nicht anders: Wenn in den Alpen gejodelt wird, hat man doch auch den Eindruck, dass die Jodler kerngesund und extrem glücklich sind.« Jörgs Vergleiche sind schon eine Wissenschaft für sich …
»Evolution!« Der Erfindungsreichtum des Lebens ist immer wieder erstaunlich, kommt mir in den Sinn. »Alles entwickelt sich und verändert sich im Laufe der Zeit, bis hin zu jodelnden, aufrecht gehenden Primaten.«
»Die kulturelle Entwicklung grenzt man aber besser von der biologischen Evolution ab. Abgesehen davon, irrst du: Nicht alles entwickelt sich weiter. Es gibt Leben, das scheint eingefroren zu sein wie in einer Zeitblase.« Ich kenne diesen lauernden Blick von
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