Keine Angst vor Anakondas
verlockenden Stimmen aus der Höhe zu kraxeln. Allerdings dürfte es recht schwierig sein, den tiefen Bass im bergigen Gelände zu orten. So cool das ist – so unpraktisch ist es auch. Denn die genaue Herkunft tiefer Töne ist schwer zu bestimmen. Selbst Kakapos können da an den physikalischen Gesetzmäßigkeiten nichts ändern. Bei hellen Tönen ist das wesentlich einfacher. Es würde mich nicht wundern, wenn die Weibchen den Weg nur im Zickzack finden oder, von der falschen Richtung kommend, an Bergrücken scheitern. Die Kakapos machen es sich wirklich nicht einfach.
Den tiefen Tönen folgt ein metallisch nasales Geräusch, das als Ching-Laut bezeichnet wird. Nach 20 bis 30 Boom-Rufen wird gechingt, als wolle das Männchen fragen, ob denn jetzt ein Weibchen in der Nähe sei. Und wenn dem so ist, dann solle es sich doch bitte einen der penibel gepflegten Pfade anschauen und ihm folgen. Alles Weitere würde sich dann ergeben. Auf die Idee, die Rimubäume ebenfalls zu begutachten, kommen die Männchen nicht. So rufen sie viele Jahre ihres Lebens völlig vergeblich nach den Weibchen. Immerhin verlieren sie in der Balzzeit bis zur Hälfte ihres Körpergewichts. Das beugt zumindest Verfettungskrankheiten vor. Kakapos verfügen über ein großes Repertoire unterschiedlicher Laute, die in ihrer Gesamtheit als vielfältig unmelodiös zu bezeichnen sind. Das »Skraark« klingt ja noch typisch nach Papagei. Andere Töne erinnern an lärmende Esel, an das Grunzen von Schweinen oder an bitterliches Weinen.
In der Ferne hört Flossie das bassige Wummern von Richard Henry, dem Vater ihrer drei weißen, flauschigen Küken. Sein Boomen fühlt sich an, als ob die Luft pulsiert und sie selbst zum Vibrieren bringt. Sie schaut zu der Anhöhe, zu der sie vor gar nicht langer Zeit gewandert ist, um bei Richard Henry zu sein. Ob sie sehnsuchtsvoll an die vermutlich wenig romantische Nacht mit ihm in der Mulde denkt, ihn gar vermisst? Schwer zu sagen, wir wissen es nicht. Immerhin könnte in ihr ein Gefühl zurückgeblieben sein, dass es schön wäre, die Küken mit einem Gefährten gemeinsam aufzuziehen. Andere Papageien sind unzertrennlich, bleiben ihr Leben lang zusammen. Womöglich ist das Gen zur Zweisamkeit bei den Kakapos nur bei den Männchen unterdrückt. Flossie seufzt tief und watschelt weiter auf der Suche nach Früchte tragenden Rimubäumen für ihre hungrigen Kleinen.
Nach zehn Wochen werden sie das Nest verlassen, aber noch bis zu einem halben Jahr von Flossie mit Rimubeeren gefüttert. Wenn diese Früchte wegen schlechten Wetters nicht reifen, dann ist die Sterberate der Jungvögel sehr hoch. Sie unterkühlen, wenn die alleinerziehende Mutter zu lange auf Nahrungssuche unterwegs ist. Aber muss das wirklich so sein? Es geht eben auch anders, wenn man will. Die Weibchen könnten viel länger auf Nahrungssuche gehen, wenn sich die Männchen zusammen mit den Weibchen um die Aufzucht kümmern würden. Doch dafür haben die Männchen keine Zeit. Sie boomen und chingen jede Nacht, monatelang, immer in der Hoffnung, dass weitere Weibchen ihrem Muldencharme erliegen. Da können sie sich nicht noch um den Nachwuchs kümmern. So sind es die Weibchen, die schweren Herzens die Liebesmulden verlassen. Früher, als Neuseeland mit Kakapos überfüllt war, schadete dies alles den Populationen nicht.
Das ist jetzt der Zeitpunkt, an dem ich Ihnen von einem unfassbaren Geschehen berichten muss, das eben mit einem bestimmten Namen verbunden ist: FLOSSIE ! Sie scheint eine Ahnung davon bewahrt zu haben, dass sich die Kakapos sehr konsequente Regeln auferlegt haben. Vielleicht hat sie auch bemerkt, dass sie kaum noch anderen Kakapos begegnet, wenn sie alleine durch die Wälder streift. Flossie ist ein Ausnahme-Kakapo, der Hoffnung verbreitet, denn sie hat auf das Fehlen erreichbarer Rimufrüchte in einer Weise reagiert, die niemand für möglich gehalten hätte: Sie füttert ihre Küken mit den Nadeln von Kiefern. Kaum zu glauben, aber das funktioniert. Wie viel mehr Kakapos würden existieren, wenn das alle Weibchen bei Mangel an Rimufrüchten beherzigt hätten? Und wie viel mehr Kakapos würden über Neuseelands Inseln watscheln, wenn die Weibchen zur Paarungszeit nicht nur die Rimubäume begutachten, sondern sich auch für die Nadeln der Kiefern interessieren würden? Ich gehe jede Wette ein, es gibt noch eine ganze Reihe anderer Pflanzen und Früchte, die genauso gut an den Nachwuchs verfüttert werden könnten.
Tragödie der
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