Keine Angst vor Anakondas
willen steckt der denn? Panisch angle ich die Fotokamera aus dem Rucksack und schieße schnell ein paar Bilder, ohne die Kamera einzustellen. Vor Aufregung zittere ich, die Kamera wackelt in meinen Händen – keine guten Voraussetzungen für ein scharfes Bild. Doch daran denke ich jetzt nicht.
Ich greife nach meiner Machete und überlege, wie ich mich mit dieser Klinge gegen einen Jaguar verteidigen kann. Da ich weder als Samurai aufgewachsen bin noch Schwert- oder Degenkurse in der Volkshochschule absolviert habe, fühle ich mich der geschmeidigen Kraft und Schnelligkeit des Jaguars ausgeliefert. Ich bin ganz klar unterlegen. Ich glaube, nur eine Chance zu besitzen: den finalen Hieb von oben herab auf den Kopf des Jaguars.
Mittlerweile ist die Katze bis auf 20 Meter an mich herangekommen.
Erneut schreie ich nach meinem Kollegen, dieses Mal noch lauter. Endlich höre ich ihn in aller Ruhe zurückrufen: »Was ist denn los?« Später stellt sich heraus, dass er anstatt »Jaguar« das Wort »Iguana«, also Leguan, verstand. Er hatte sich schon gewundert, warum ich wegen einer Echse so ein Geschrei machte. Doch das Gebrüll hat auch sein Gutes: Ich signalisiere dem Jaguar, dass ich mich verteidigen werde, dass ich ihm ebenbürtig bin. So zumindest fasst er es ganz offensichtlich auf, und er wirkt einen kleinen Moment etwas verunsichert. Immerhin, er stoppt! Dann beginnt er damit, mich zu umrunden. Dabei lässt er mich keinen Moment aus den Augen. Er schreitet immer noch so langsam daher wie ein Kunde im Supermarkt, der an einer prall gefüllten Fleischtheke das Angebot inspiziert.
Mein Impuls, wegzulaufen, ist fast übermächtig. Doch ich bleibe stehen, behaupte meinen Platz. Der Jaguar hat mich jetzt schon fast zur Hälfte umkreist. Endlich sehe ich Bewegung im Camp. Mit großem Befremden stelle ich fest, dass mein Kollege es vorzieht, mit seiner Fotokamera auf der Bildfläche zu erscheinen und Aufnahmen zu machen, anstatt mich mit aufjaulendem Motor aus der gefährlichen Situation zu befreien. Panisch fordere ich ihn erneut auf, mit dem Jeep zu kommen. In diesem Moment hätte ich ihn auf den Mond schießen können.
Vermutlich waren diesem Jaguar noch keine Menschen vor die Nase gekommen. Von den brausenden Sattelschleppern auf der ewig langen Piste, die gefällte Urwaldbäume zur Sättigung des nicht nachlassenden Hungers der Welt nach Holz abtransportieren, hält er sich fern. Ich habe den Eindruck, dass er mit meiner Spezies noch keinen Kontakt gehabt hat, dass er unschlüssig ist, was er mit mir anfangen soll. Der Jaguar wirkt neugierig und ist womöglich hungrig. Ich als Zweibeiner passe nicht in sein bekanntes Beutespektrum. Auch Jaguare sind nun einmal Gewohnheitstiere. Gelassen wendet er sich von mir ab und schreitet zum Waldrand, in dem er verschwindet. Er stolziert so langsam davon, wie er gekommen ist. Offensichtlich hat er keinen Appetit auf unbekannte, exotische Sohlengänger, die fortwährend lauthals krakeelen. Hätte ich auch nur den Ansatz einer Fluchtbewegung gemacht, wäre sein Jagdinstinkt erwacht. Gegen seine Pranken und Zähne hätte ich nicht die geringste Chance gehabt. Auch nicht mit meiner Machete. Es war die Erfahrung mit unseren domestizierten »besten Freunden«, die mich rettete …
»Und der Jaguar ist einfach verschwunden und nicht wieder aufgetaucht?« Jörg wundert sich wirklich.
»Wir haben ihn die ganze Zeit über an den Inselbergen nur dieses eine Mal gesehen. Doch wir fanden später Spuren im Sand der Piste und auf dem Waldboden, Losungen auf dem Granit, und einmal schrie mein Kollege nachts aus seinem Zelt, weil er meinte, draußen etwas gehört zu haben. Seit dem Besuch des Jaguars war nichts mehr so wie zuvor. Vor allem nachts, wenn wir den Rufen der Frösche folgten, um sie aufzuspüren, war es besonders unheimlich. Uns war klar, dass der Jaguar im Dunkeln hinter jedem Busch sitzen konnte, ohne dass wir ihn bemerkten.«
Jörg starrt in Gedanken versunken auf die Anakonda. Dann fällt ihm etwas ein: »Es kann auch ganz anders zu einer ungewollten Annäherung kommen, einer, die beide Seiten nicht geplant haben. Ich kenne da eine Geschichte: Stell dir vor, du hast dich als Kameramann hinter einem Busch versteckt. Du wartest auf Löwen, die du beim Trinken am Fluss filmen willst …«
Der Schatten des Löwen – Panthera leo
Wie erhofft, erscheint ein Löwe auf der Bildfläche. Der Mainzer Tierfilmer Reinhard Radke freut sich und lässt die Kamera laufen. Der Löwe nähert
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