Keine Angst vor Anakondas
sie in der Nahrung switchen und es auch einmal mit den eigentlich ungeliebten Zweibeinern als Beute versuchen.
Noch heute erinnert man sich an die entsetzlichen Vorgänge, als 1898 die erste Eisenbahnstrecke in Ostafrika gebaut wurde. Beim Bau der Brücke über den Fluss Tsavo im Süden Kenias holten sich zwei Löwen nachts die schlafenden Arbeiter gleich dutzendweise aus den Zeltlagern. Die Raubtiere waren anfangs wohl durch die vielen an Krankheit und Erschöpfung gestorbenen Arbeiter angelockt worden, die oft nur am Rande des Lagers abgelegt worden waren, ohne sie zu beerdigen. Das war extrem unvorsichtig. Schnell hatten die Löwen außerdem herausbekommen, dass Zeltwände für sie keine Hindernisse auf dem Weg zu leichter Beute waren. Ihre Schreckensherrschaft dauerte Monate, erst nach vielen Mühen konnten sie erlegt werden. Solche Fälle von Menschen fressenden Löwen sind allerdings absolute Ausnahmen. Gesunde Löwen in einem intakten Ökosystem lassen den Menschen in Ruhe.
Reinhard Radke weiß, dass er handeln muss, bevor der Löwe noch näher kommt. Der ist nur noch etwas über 20 Meter von ihm entfernt. Die Distanz wird bereits kritisch. Radke darf nicht zulassen, dass sich der Löwe in zu großer Nähe erschreckt. Ein überraschter Löwe handelt instinktiv: Er flüchtet oder greift aus einem Reflex heraus an! Also muss Radke sich dem Löwen rechtzeitig zeigen, ihm signalisieren, dass der Platz unter dem Busch bereits belegt ist. Er richtet sich auf, klatscht ein paarmal laut in die Hände und ruft: »Verschwinde, mach, dass du wegkommst! Los, hau ab!« Seine Stimme baut sich wie eine Schallmauer zwischen ihm und dem Löwen auf. Der bleibt verdutzt stehen, schaut sein Gegenüber irritiert an. Das ist der Moment, in dem sich entscheidet, wie der Löwe reagiert. Und tatsächlich, der Löwe dreht ab. Reinhard Radke atmet auf. Schwein gehabt, das hätte schiefgehen können! Die Freude währt indes nicht lange: Radkes Leben ist gerettet, aber die Aufnahme eines Löwen, der zum Fluss geht und trinkt, ist unwiederbringlich verloren.
Der Löwe hat den Sinn der Worte nicht verstanden, aber die Botschaft dahinter, dass der schöne Platz belegt ist und er zusehen soll, dass er einen anderen Platz findet, schon. Auch die Tiere in der Natur teilen sich gegenseitig durch vielerlei Lautäußerungen mit, was Sache ist. Die verstehen sich untereinander. Tierfilmer verlassen sich auf ihre Kenntnis der Tiere und manchmal auf die notwendige Portion Glück. Waffen haben sie in der Regel keine dabei. Außerdem vermeiden sie es, wenn immer möglich, von den Tieren überhaupt wahrgenommen zu werden. Und wenn es doch geschieht, hat die Wildnis einen großen Vorteil. Alle Richtungen sind offen, der Abstand kann nach Belieben ausgeweitet werden. In Zoologischen Gärten oder im Zirkus besteht diese Möglichkeit nicht. Im November 2006 kam im Chemnitzer Zoo eine Tierpflegerin durch den Nackenbiss eines Leoparden ums Leben. Es stellte sich heraus, dass der Schieber zu seinem Käfig nicht verriegelt war. Ähnliche Unfälle hat es immer wieder gegeben. Die Raubtiere töteten die Zooangestellten nicht, um sie zu fressen. Man darf die Situation der eingesperrten, gefangenen Tiere nicht missverstehen. Ihnen war vermutlich das Eindringen in ihr extrem kleines Revier unerträglich.
Gespannt habe ich Jörgs Geschichte gelauscht. Sie erinnert mich an etwas: »Du wirst es mir kaum glauben, Felix Heidinger, den kennst du aus der Serie Felix und die lieben Tiere , ist etwas Ähnliches wie Reinhard Radke passiert. Er erzählte mir die Geschichte von einem Jaguar, der im Norden Venezuelas umgesiedelt wurde. Nach einem Betäubungsschuss wurde er in einem Käfig auf der Ladefläche eines Jeeps in eine menschenleere Gegend abtransportiert. Das Öffnen des Transportkäfigs haben die Tierfilmer später von einem Unterstand aus gedreht, der aus Ästen in einem kleinen Gebüsch bestand. Der Jaguar sprang dann allerdings direkt auf den Verhau aus Stöcken und Zweigen zu, von dem aus Felix Heidinger den Jaguar filmen wollte.«
Jörg runzelt die Stirn und sagt: »Ich frage mich, was in dem Jaguar vorgegangen sein mag, der da umgesiedelt wurde …«
»Beim Freilassen war der wegen der Betäubung noch wackelig auf den Beinen. Vielleicht hatte der Jaguar auch Kopfschmerzen davon. Der muss total durcheinander gewesen sein, als er plötzlich in einer ihm unbekannten Gegend stand. Tja, was mag der sich wohl dabei gedacht haben? Keine Ahnung.«
»Können
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