Keine Angst vor Anakondas
sondern ein Trockenwald, in dem ungefähr die Hälfte der Bäume in der regenarmen Zeit ihr Laub abwirft. Knospen und frischgrüne Blätter hüllen den Wald in ein farbenfrohes Gewand. Die von den letzten Regengüssen randvollen Wasserlöcher auf dem Fahrweg haben manchmal die Größe von Tümpeln. Im Vertrauen, dass wir schon nicht versinken werden, rauschen wir einfach durch sie hindurch. Hunderttausende Schmetterlinge flattern wie ein wogendes Blütenmeer um die Wasserstellen.
Unser Ziel ist eine sogenannte Inselberggruppe nahe der Piste, die sich wie ein Haufen flacher Kegel unvermittelt aus der Ebene erhebt. Erst 1990 entdeckte ein Professor des Systematischen Instituts Zürich diese Berge für die Wissenschaft, als er mit einer Cessna über das Gebiet flog. Er leitete seine Beobachtung an das Botanische Institut der Universität Bonn weiter. Zwei Jahre nach der Entdeckung unternahmen Bonner Botaniker eine erste naturwissenschaftliche Expedition zu den Erhebungen. Inselberge sind für Biologen ganz besonders interessant: Sie haben ihre eigene, von der Umgebung verschiedene Tier- und Pflanzenwelt.
Wir sind die ersten Zoologen vor Ort. Ich bin begeistert – was für ein großartiges Thema für meine Diplomarbeit! Meine Aufgabe besteht in der Erforschung der Reptilien, während mein Kollege die Amphibien dieser Region bearbeitet.
In Bolivien waren wir auf über 4 000 Metern Höhe in La Paz in den Anden gelandet. Kaum aus dem Flugzeug ausgestiegen, bekamen alle Passagiere erst einmal Cocatee zum Entspannen. Die enorme Höhe und der damit verbundene Sauerstoffmangel machten uns müde, und beim Treppensteigen ging uns ungewohnt schnell die Puste aus. In der Hauptstadt mieteten wir für drei Monate einen Jeep, und schon rollten wir die Andenhänge hinunter ins heiße Tiefland. In Santa Cruz de la Sierra, Boliviens zweitgrößter Stadt, kauften wir Vorräte und Trinkwasser für einen langen Aufenthalt in einem Camp ein. Von dort sind wir über die einsame Holzfällerpiste unserem Inselberg entgegengefahren. Grandios, was für eine unglaublich spannende Expedition. Wir fühlen uns nicht nur als Entdecker, wir sind es auch.
Die bolivianischen Inselberge sind nicht mit den Tepuis in Venezuela zu vergleichen, deren Felswände meistens aus Sandstein bestehen und oftmals senkrecht abfallen. Unsere Inselberge sind bis 100 Meter hoch, rund geformt und bestehen aus hartem Granit. Erdgeschichtlich gesehen ist der Granit mit ungefähr drei Milliarden Jahren steinalt. An dem Berg, den wir anvisieren, tritt großflächig der blanke Granit zutage, obwohl die Hänge nur mäßig steil sind. In den Mulden wachsen Velozienbüsche, und es stehen vereinzelt ein paar größere Kakteen in der Gegend herum. Die Kuppe unseres Berges ist dichter bewachsen. Über dem nackten rötlichen Fels wird es tagsüber brutal heiß.
Abendstimmung. Der Himmel ist bedeckt, ein laues Lüftchen säuselt. Bis vor wenigen Sekunden war die Welt noch in Ordnung, nun aber ist sie für mich völlig aus den Fugen geraten: Ich nehme aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung wahr, schaue genauer hin und bemerke in größerer Entfernung einen ausgewachsenen Jaguar, die größte südamerikanische Raubkatze. Der Jaguar hat mich längst entdeckt. Sehr, sehr langsam zottelt er über den harten Granit. Das Blut gefriert mir in den Adern. Kein Zweifel, er peilt mich an. Wenn er weiter so direkt auf mich zukommt, wird er mich in Kürze erreichen. Was dann? Die Raubkatze starrt mich im Gehen ununterbrochen an. Mir kommt es vor, als durchbohre mich ihr Blick.
Gefährliche Situationen mit Raubkatzen stellte ich mir bisher so vor, dass sie mich aus dem Hinterhalt anspringen oder mit einem kurzen Spurt auf mich zupreschen. Dieser Jaguar aber geht schnurstracks auf mich zu, wobei er keine Eile zeigt. Er bewegt sich betont langsam. Er stolziert fast, als wolle er erst einmal sehen, wer da so unbeholfen auf seinem Inselberg herumlungert.
Fieberhaft überlege ich, was ich tun kann. Das Camp ist für mich unerreichbar. Ich denke an das schützende Innere des Jeeps, der im Lager steht. Was würde ich dafür geben, ins Auto springen und die Tür hinter mir zuschlagen zu können! Auch der Wald ist zu weit entfernt. Ich stehe, wie auf dem Präsentierteller, mitten auf einer offenen Fläche und rufe laut nach meinem Kollegen: Er solle schnell in den Jeep springen und mich mit Vollgas aus dieser brenzligen Situation herausholen. Vergeblich, ich bekomme keine Antwort. Wo um Himmels
Weitere Kostenlose Bücher