Keine Angst vor Anakondas
tiefes Grauen schüttelte ihn, als er einen angefressenen Brustkorb erblickte, an dem der Bär, dem er soeben noch entkommen konnte, jetzt wieder fraß. Er versuchte den Bären zu verscheuchen, indem er dicht über ihn hinwegflog. Der selbstbewusste Bär ließ sich jedoch nicht davon beeindrucken.
Der deutsche Filmemacher Werner Herzog verfilmte Treadwells Geschichte ( Grizzly Man , 2005), wobei er sich nicht gescheut hat, auch kritische Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Treadwells Videomaterial stand ihm zur Verfügung, und er nutzte es ausgiebig – vor laufender Kamera hatte der Bärenschützer allein in den letzten fünf Jahren über 100 Stunden Material produziert. Das erschreckende Tonmaterial des Bärenüberfalls wird im Film jedoch nicht abgespielt. Mindestens sechs Minuten kämpfte das Paar um sein Leben, wobei Amie Huguenard auch mit einer Bratpfanne auf den Bären eindrosch. Beide wurden letztlich an diesem trostlosen, verregneten Herbsttag grausam getötet, und der Grizzly hat sich an ihnen satt gefressen.
Der Bär war den Rangern kein Unbekannter. Er war früher schon einmal betäubt und mit der Nummer 141 des U.S. Park Service versehen worden. Kurz nach dem tödlichen Zwischenfall wurde er, ein 28-jähriges und damit ziemlich altes Männchen, von herbeigerufenen Park-Rangern erschossen. Nach dem Öffnen des Bären wurden dem Magen die menschlichen Leichenteile entnommen, die insgesamt vier Plastiksäcke füllten. Auch die linke Hand und der Arm Treadwells wurden gefunden. Am Handgelenk befand sich die noch immer tickende Uhr.
11
Am seidenen Faden
05:28 Uhr
Allmählich wird es heller. Ich schalte die Stirnlampe aus, die einen Satz neuer Batterien vertragen könnte. Die Anakonda in unserer Mitte scheint zu schlafen oder zumindest dahinzudämmern. Der Leinenbeutel über ihrem Kopf verhindert, dass ich ihre Augen sehe. Aber es wäre ja eh nicht möglich, an ihren Augen festzustellen, ob sie schläft. Sie kann die Augen nicht schließen, ihre durchsichtigen Lider sind, wie bei allen Schlangen, über den Augen verwachsen.
Doch dann entdecke ich eine kleine Bewegung auf dem massigen Körper. Ich lehne mich vor, schalte die Lampe wieder an und richte sie auf den Anakondaleib. »Was ist da?«, fragt Jörg mich.
»Da krabbelt etwas«, antworte ich. »Eine, nein, zwei Ameisen!«
Jetzt leuchtet auch Jörg die Anakonda ab, und wir entdecken weitere vereinzelte Ameisen, die anscheinend ziellos umherstreifen. Wir beobachten sie eine Weile.
»Die sind harmlos!«, resümiere ich und schalte meine Lampe wieder aus.
»Wieso?«
»Weil sie nicht beißen! Vermutlich liegt die Anakonda denen im Weg. Die flitzen nur umher. So benehmen sich keine Späher, also ist keine Kavallerie im Anmarsch.«
»Was für eine Kavallerie?«
»Na, die Kavallerie von Treiberameisen, Soldaten, die sich auf alles stürzen, was lebt, egal wie groß! Das hier sind keine Treiberameisen«, erkläre ich Jörg.
Mit Treiberameisen machte ich bereits eine sehr unangenehme Erfahrung: Eines Nachts hatte ich in Bolivien in einem Wald neben der Piste mein Zelt aufgebaut. Ich befand mich längst im Reich der Träume, als ich plötzlich erwachte. Instinktiv spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Ich knipste die Taschenlampe an. Ein Blick auf den leise tickenden Wecker zeigte mir: zwei Uhr nachts. Plötzlich wurden mir feine Bewegungen im Haar und dann ein unangenehmes Kitzeln im Gesicht bewusst. Ein Insekt. Nun gut, ungebetener Besuch von Nachtfaltern oder anderen Insekten ist im Zelt in den Tropen keine Seltenheit – ich nehme das ewige Hintergrundgeräusch der Insekten, bestehend aus Zirpen, Schwirren, Rascheln, Summen und Brummen, längst kaum noch wahr. Den Krabbler wischte ich damals kurzerhand aus dem Gesicht. Ich leuchtete um mich. Ein dunkler Fleck zeichnete sich oben am Zelt in einem Lüftungsfenster ab. »Was ist das denn?«, dachte ich verwundert und rieb mir die Augen. Der schwarze Fleck war eine einzige wabernde Masse. Dann kitzelte es auf meinem Arm. Ich sah und begriff: Ameisen! Mit einem Mal war ich hellwach. Das wimmelnde Durcheinander oben am Zelt bestand aus Hunderten, wenn nicht Tausenden Ameisen! Ich leuchtete das Zelt ab und sah sie überall herumkrabbeln. Erneut begriff ich: Treiberameisen! Die machen auch vor echt großer Beute nicht halt und meißeln ihre Klauen in jedes Fleisch, auch in das Fleisch von Zweibeinern, wenn die nicht Land gewinnen. Mein Herz begann zu rasen, als stünde die Ausgeburt des Bösen persönlich
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