Keine Angst vor Anakondas
»Auf-dem-Ast-Hocken« der Spinne. Sie sollte endlich beginnen, ein Netz zu bauen, nicht aber sich der Schwerkraft hingeben und das Weite suchen. »Das kann doch nicht so schwer sein«, denkt er, »Netze bauen, das machen die da draußen doch ständig!«
Enttäuschung und eine Prise Frust machen sich in dem Labor und Filmstudio breit, in dem Kurt Hirschel ein einfaches Spinnenbiotop aufgebaut hat: ein paar Äste und Zweige, die in günstigen Abständen für den Netzbau angeordnet waren. Scheinwerfer leuchten die Szenerie optimal aus. Doch die Spinne spielt nicht mit, will einfach nicht beginnen.
Kurt Hirschel steht noch ganz am Anfang seiner Aufgabe. Er beabsichtigt, die Spinnen auf eine Weise zu zeigen, wie sie zuvor noch nie zu sehen waren: In brillanten Nahaufnahmen will er ihre faszinierenden und vielfältigen Verhaltensweisen im Film kristallklar zeigen. Wissen und Verständnis, neutral und wertfrei vermittelt, sollen dem üblichen Ekel und Abscheu vor Spinnen entgegenwirken. Gewünscht sind »Aha-Erlebnisse« beim sezierenden Anschauen nie gesehener Details. Einen ganzen Film nur über Spinnen, und das zur besten Sendezeit, das hat es noch nie gegeben.
Schwerpunkte des Filmprojektes über die Welt der Spinnen bilden Netzbau, Fangverhalten und Paarung. Mit modernster Optik und bis zu 40-facher Vergrößerung eröffnen sich neue Dimensionen, um die Vielfalt der Formen und Farben im Mikrobereich erkennbar werden zu lassen. Der Film Leben am seidenen Faden (1975) soll Bewunderung und Erstaunen erzeugen. Grund für die Faszination gibt es genug in der Welt der Spinnen, allein schon ihre Gewebe stellen Kunstwerke dar, deren Struktur, Konstruktion und Stabilität trotz aller heutigen technischen Möglichkeiten in der Welt des Menschen unerreicht sind.
Laufbahn eines Tüftlers
Kurt Hirschel wird nicht ruhen, bevor er den Spinnen die faszinierenden Details ihrer Spinnerei optisch entrissen hat. Als Erstes wünscht er sich Bilder der unterschiedlichen Seidenarten, denn je nach Bedarf produzieren Spinnen verschiedene Fäden zum Netzbau, für ihre Eikokons, als Fangfäden oder zum Verkleben und Anheften der Fäden. Dabei können sie ausgesprochen fleißig sein: Viele Radnetzspinnen bauen täglich ein neues Netz. Das alte Netz wird zusammengerafft, mit einem Sekret verflüssigt und aufgesogen, ein geniales Beispiel von Recycling. Es gibt sogar einen speziellen Häutungsfaden, an dem sich die Spinnen zum Zweck der Häutung in die Luft hängen. Spinnen, die keine Fangnetze bauen, wie die Vogelspinne, häuten sich in Rückenlage. Das Chitin der gehäuteten Gliedmaßen ist noch zu weich, um ihr Körpergewicht zu tragen.
Produziert wird die Spinnseide in Spinndrüsen im Hinterleib der Spinne. Jede Spinndrüse ist mit einer Spinnspule verbunden, die zu Hunderten auf den beweglichen Spinnwarzen gruppiert sind. Aus den Spinnwarzen wird ein bereits fester Doppelfaden an die Luft entlassen, der von vielen Webspinnen mit einem zähflüssigen Klebstoff zum Anhaften von Beute bestrichen werden kann. Die Spinnfäden bestehen aus wasserunlöslichen Proteinen, deren chemische Struktur und Beschaffenheit je nach Verwendungszweck variieren. Die dünnste produzierte Spinnwolle ist so dünn, dass diese Fäden nur mit raffinierten optischen Hilfsmitteln sichtbar werden – und einer gesunden Portion Geduld und Erfindungsgabe.
Wenn es jemanden in den Siebzigerjahren gab, der für diese knifflige Aufgabe perfekt geeignet war, dann Kurt Hirschel. Im Jahr 1926 geboren, begeisterte er sich schon als junger Mann für Optik und Kameras und wurde Ingenieur bei der Kamerafirma Arnold & Richter ( ARRI ).
»Schwierigkeiten sind dazu da, um gelöst zu werden.« Diesem Credo folgte er mit Leidenschaft, und bald verfügte er über so viel praktische Erfahrung als Kameramann und Techniker wie kaum ein anderer.
1952 war er als Kameramann und Bordingenieur mit dem Tauchpionier Hans Hass auf dem Segelschiff Xarifa auf großer Fahrt gewesen. Die Xarifa war zuvor als abgetakelter Kohlensegler unterwegs. Mit großem Aufwand hatte Hans Hass das Schiff für die Expeditionen umgebaut. Ganz Deutschland fieberte mit, Tausende Menschen säumten die Elbe, als die Xarifa für neun Monate in die Karibik aufbrach. Unterwegs filmte Kurt Hirschel erstmalig farbig, damals noch eine neue Errungenschaft der Filmerei. Der aus der Expedition hervorgehende Film Unternehmen Xarifa avancierte zum Kinomagneten. Hans Hass wurde eine Berühmtheit, ein Leinwandheld der
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