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Keine Angst

Keine Angst

Titel: Keine Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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zu sehen.
    Aber Gretchen bekam keine solchen Medikamente. Und sie sah kaum aus wie jemand, der phantasiert. Es konnte nicht schaden, sie vorübergehend ernstzunehmen.
    »Gut«, sagte ich. »Klären Sie mich auf.«
    »Wir müssen ein paar Jahre zurückgehen. Das Thema meiner Doktorarbeit waren Serienmörder, das heißt, es ging weniger um die Morde als um den zugrundeliegenden seelischen Defekt. Wie Sie sich denken können, hatte ich einiges zu recherchieren. Seltsame Erfahrung übrigens. Nach einer Weile beginnt man sich an die Scheußlichkeiten zu ge-wöhnen, mehr noch, man wird regelrecht süchtig nach immer exorbitanteren Entgleisungen der menschlichen Natur.«
    »Gretchen, mir graut vor dir!«
    »Naja, soviel perfider Ideenreichtum, da stellt sich eine beinahe sinnliche Lust ein, dem Wie das Warum hinzuzufügen. Sie möchten eintauchen in die Persönlichkeit des Psychopathen, dieses fremdartige, organische Kontinuum, dessen Natur darauf ausgerichtet scheint, sich selbst und andere mit aller zur Verfügung stehenden Raffinesse zu täuschen. Psychopathen sind meistens intelligent, und wir Analytiker versuchen halt, noch ein bißchen intelligenter zu sein …«
    »Ihr seid eitel, das ist alles.«
    »Mag sein. Um es kurz zu machen, eines Tages wurde ein höchst ungewöhnlicher Fall publik. Da war eine Frau ermordet worden …«
    »Rote Haare?«
    »Richtig. Arbeitete im Sekretariat der Kölner Uni. Niemand von Bedeutung, weder reich noch sonst in irgendeiner Weise wichtig. Die Putzkolonne fand sie im großen Hörsaal, ausgestreckt hinter dem Katheder. Man hatte sie erdrosselt. Aber das war nicht das eigentlich Bemerkenswerte.«
    »Was dann?«
    »Ihre Hände …«
    »Ja?«
    »Sie fehlten.«
    »Fehlten?«
    »Sie waren nicht mehr da. Abgesägt. Muß ein ordentliches Stück Arbeit gewesen sein. Hände rupfen Sie nicht einfach mal so eben vom Gelenk.«
    Ich zuckte die Achseln. »Kommt drauf an, wer’s macht. Mancher Profi wird Ihnen die Hände schneller amputieren, als Sie ›bitte nicht!‹ sagen können.«
    »Das ist aber noch nicht alles. Der Mörder – oder die Mörderin – hatte ihr einen Teil des Gesichts abgeschnitten. Ihre Lippen waren entfernt worden.«
    »Grundgütiger! Warum erzählen Sie mir das?«
    »Moment noch. Die Frau lag also hinter dem Katheder, mit entblößtem Oberkörper, aber ungeschändet. Nicht mal die Spur eines Versuchs. Auf ihren Bauch war ein Zeichen gemalt, mit Blut übrigens, ihrem eigenen.«
    Sie griff nach Block und Stift, malte etwas auf und präsentierte mir mit theatralischer Geste das Blatt.
    »Zwei konzentrische Ringe, ein Kreis im Kreis.«
    Ich gab ihr das Blatt zurück. »Sieht aus wie ein Fall für Semiotiker.«
    Sie hob die Brauen.
    »Verstehen Sie was davon?«
    »Wenig. Als Studenten haben wir aus Jux und Dollerei kabbalistische Zeichen entschlüsselt. Was hatten die Kreise zu bedeuten?«
    »Auf den ersten Blick nichts. Es gab also zwei Möglichkeiten. Entweder waren sie der Phantasie des Mörders entsprungen, dann würde mich die Semiotik nicht weiterbringen. Oder aber das Zeichen existierte, dann mußte es irgendwo schon mal aufgetaucht sein.«
    »Zwei Kreise könnten alles mögliche bedeuten.«
    »Dazu kommen wir später«, sagte sie im Tonfall einer Volksschullehrerin. »Vorerst machte ich mir nicht die Mühe, es herauszufinden. So wichtig schien mir der Fall denn doch nicht. Aber dann, zwei Jahre später erfuhr ich über Polizeikontakte, in einem Kölner Krankenhaus« – sie nannte mir den Namen – »sei eine Patientin aus dem Leben geschieden. Unfreiwillig. Tod durch Erwürgen, Hände und Lippen abgetrennt. Die Geschichte kam nie in die Zeitungen, man hat’s vertuscht. Das Symbol der Kreise fand sich auf ihrer linken Brust, wieder mit Blut gemalt.«
    Ich hörte mir das an und schüttelte den Kopf. Inzwischen warteten mindestens zwei Oberärzte darauf, die vereinbarten Termine mit mir wahrnehmen zu können.
    »Das ist alles sehr interessant«, sagte ich höflich. »Aber mir ist immer noch nicht klar, worauf Sie eigentlich hinauswollen.«
    »Worauf?« Sie sah mich an wie ein Kind, das zu früh ›warum‹ gefragt hat. »Bei den Morden ist es nicht geblieben! Eine Leiche im Stadtgarten. Eine am Rheinufer. Eine in der Altstadt. Und immer dasselbe Bild.«
    »Keine Hände, keine Lippen, Kreise.«
    »Ja!«
    »Wollen Sie nicht allmählich mal zur Sache kommen?«
    Sie warf den Kopf in den Nacken und musterte mich düster. »In der Nacht vor Ihrem letzten Besuch wachte ich auf

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