Keine Angst
auch, der den Doppelkreis solange nicht durchbrechen kann, wie ihn die Liebe intakt hält. Die Immanenten schwören darauf, daß sie mit dieser Liebe die Welt bewegen können. Sie sehen sich als großes energetisches Zentrum.«
»Die üblichen Auserwählten. Klingt nicht sonderlich originell. Die Amish People leben abgeschottet ohne Strom und Autos. Da ist wenigstens noch handfeste Dorfromantik hinter.«
»Naja, die Philosophie der immanenten Liebe ist nicht ganz so simpel gestrickt, wie ich es dargestellt habe. Aber halt schon eine Sekte, und eine kleine obendrein. Die Chance, einem Immanenten zu begegnen, ist demnach verschwindend gering.«
»Sind die alle tätowiert?« fragte ich.
»Keine Ahnung. Es gibt kaum greifbare Unterlagen, Morel Shlomskys Enzyklopädie der Religionen ist die einzige, und der weiß nichts von Tattoos. Aber es ist nicht auszuschließen. Die einen brennen sich was auf den Pelz, die anderen ritzen sich was ein, warum nicht auch tätowieren?«
»Klingt einleuchtend«, gab ich zu. »Aber wie ist das nun zu verstehen? Ich meine, er – oder sie – sägt den Opfern die Hände ab und schneidet ihnen die Lippen aus dem Gesicht, nachdem er sie zuvor erdrosselt hat. Und dann versieht er sie mit einem …«
Sie lächelte. Das erste Mal seit Beginn unseres Gesprächs lächelte sie wieder.
»Ja«, sagte sie. »Mit einem Zeichen der Liebe.«
Ich versicherte sie meiner absoluten Skepsis. Ihre Geschichte sei abstrus, die angeblichen Narben auf einen Verzerrungseffekt des Spiegels zurückzuführen, und im übrigen gehörten solche Geschichten nicht ins Krankenhaus, weil sich sonst die Leute, deren Gesundung uns oblag, zu Tode ängstigen würden.
Sie blieb dabei.
Ich hatte nichts anderes erwartet. Gretchen war nun mal der beharrliche Typ. So schnell würde sie sich die Sache nicht aus dem Kopf schlagen.
Im folgenden war es einer dieser Tage, der einen nicht aus dem Büro entläßt. Als ich schließlich auf die Uhr sah, war es Mitternacht durch. Ich schnappte mir den Dienstplan und ging die Nachtschichten durch. Auf Gretchens Station tat dieselbe Schwester Dienst, die auch dort gewesen sein mußte, als Gretchen durch die Gänge gegeistert war.
Ich beschloß, sie aufzusuchen.
Der Flur lag erleuchtet vor mir, als ich die Station betrat. Als erstes warf ich einen Blick in den Waschraum und betrachtete mein Gesicht in dem Vergrößerungsspiegel. Eine Kraterlandschaft. Ging ich einen Schritt nach hinten, verzerrte er meine Züge zur Unkenntlichkeit. Gretchen hatte im Flur gestanden. Ich fragte mich, wie sie auf die Entfernung etwas gesehen haben wollte.
Und dennoch …
Von irgendwoher drangen leise, klappernde Geräusche. Ich rieb mir die Bartstoppeln und ging weiter bis zum Schwesternzimmer.
Die Nachtschwester blätterte in Zeitschriften und trank Tee. Als ich den Kopf zur Tür reinsteckte, zuckte sie zusammen, setzte eine schuldbewußte Miene auf und sagte »Oh!«
Zum Teufel mit diesem devoten Oh. Ich hasse es. Oh, ein Vorgesetzter! Oh, der liebe Gott! Sie konnte meinethalben lesen, soviel sie wollte. Hauptsache, sie schlief nicht ein.
Ich fragte sie, ob ihr in der besagten Nacht etwas Ungewöhnliches aufgefallen sei, und sie verneinte. Gretchen Baselitz? Die habe sie nicht angetroffen. Im Waschraum sei auch keiner gewesen, außer vielleicht, als sie gerade mal austreten mußte oder ihren Rundgang machte, das könne sie natürlich nicht sagen, aber während der Dauer ihrer Anwesenheit – nein, gar nichts sei da gewesen, überhaupt nichts.
Ich verließ sie einigermaßen beruhigt.
Aber die Geschichte ließ mich einfach nicht los.
Nachdenklich fuhr ich nach Hause, ging zu Bett und überlegte, wie ich in der Sache weiter verfahren sollte. Die Vorstellung mißfiel mir, daß Gretchen am Ende noch Gott und alle Menschen verrückt machte. Gerüchte vom Krankenhauskiller waren das letzte, was ich hier brauchen konnte. Eigentlich hatte ich das Thema nicht mehr ansprechen wollen, aber bevor sie den halben Laden in Panik versetzte, war es wohl besser, sie auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.
»Ihre Ignoranz ist beispiellos«, rief sie aufgebracht. »Sie scheinen tatsächlich zu glauben, daß ich spinne.«
»Ein Vorschlag zur Güte«, sagte ich konziliant. »Sie erzählen niemandem, was Sie mir erzählt haben. Dafür bin ich bereit, Ihnen zuzuhören, wann immer …« Eine bange Ahnung beschlich mich. »Oder haben Sie es schon breitgetreten?«
»Nein, hab ich nicht«, erwiderte sie
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