Keine Angst
mögliche, nur nicht mehr um das, was man eigentlich mal studiert hat. Bisweilen kam ich mir vor wie ein Verwaltungstrottel. Mir fehlte der Kontakt zur Basis. Im Gegensatz zu meinen Vorgängern hatte ich jedoch beschlossen, den Olymp so oft wie möglich zu verlassen und in die Welt der Sterblichen zu steigen. Also Abteilungen kontrollieren, auch mal nachts. Patienten aufsuchen, mit ihnen reden, ihre Probleme anhören, um einen Eindruck zu gewinnen, wie die einzelnen Sektionen geführt wurden. Dabei machte ich keine Unterschiede, schnüffelte in der Kardiologischen ebenso rum wie in den Neurologien und in der Chirurgie und besuchte Patienten nach dem aleatorischen Prinzip. Einige der Chefärzte begrüßten das, anderen ging ich damit wohl gründlich auf die Nerven. Mir war’s gleich. Es war mein Krankenhaus, auch wenn mir hier nichts gehörte. Aber ich hatte meinen Stil, und sie hatten mich immerhin für vier Jahre gewählt.
Selber schuld.
So lernte ich Gretchen kennen, kurz nachdem sie bei uns Quartier bezogen hatte.
Sie litt an einer Hypertonie, ungewöhnlich für jemanden ihres Alters. Bluthochdruck ist eher eine Krankheit der Betagteren. Aber Gretchen Baselitz – die halsstarrig darauf bestand, mit ihrem Vornamen angeredet zu werden – war eben mal sechsunddreißig Jahre alt, hatte das Temperament einer Chilischote und leider einen viel zu hohen Wert. Wir gaben ihr Medikamente, die sie natürlich auch zu Hause hätte nehmen können, aber sie hatte eine stationäre Behandlung aus eigenem Ermessen vorgezogen. Was einerseits auf Dr. Grabowski, ihren Hausarzt und zugleich Chef unserer Abteilung für Anästhesie, zurückzuführen war, andererseits auf ihre Klugheit. Auch wenn sie sich einen galligen Spaß daraus machte, mich und das ganze Krankenhaus in Grund und Boden zu verfluchen, weil wir sie von ihrer Arbeit abhielten, war es letzten Endes ihre eigene Entscheidung gewesen, Grabowskis Rat anzunehmen und hierherzukommen.
Jetzt bewohnte sie also ein geräumiges Einzelzimmer, das sie sofort in ein Büro umfunktioniert hatte. Bei meinem ersten Besuch fand ich sie am PC arbeitend vor, umgeben von Kisten mit Disketten und CD-ROMs, einer wahren Enzyklopädie des psychologischen Wissens inklusive sämtlicher Grenz-und Präzedenzfälle, unordentlich im Raum verteilt. Von Zeit zu Zeit kam jemand und brachte Nachschub. Mir war schleierhaft, wozu sie den ganzen Kram benötigte. Ich zog sie damit auf, und sie spottete zurück, daß ja wenigstens einer arbeiten müsse, um die Ärzte satt zu kriegen. Womit sie nicht unbedingt unrecht hatte.
Ich mochte sie. Ihre Art machte mir Spaß, und so kam alles ins Rollen.
Worüber ich nicht verfügte, war Zeit. Dennoch hatte sie es einigemale geschafft, mich zum Schach zu überreden, worin sie allerdings lausig war. Das wunderte mich. In Psychologenkreisen, hatte ich mir sagen lassen, genoß sie den Ruf einer ausgezeichneten Analytikerin. Mir schien denn auch, daß ihre mangelnde Begabung eher einer inneren Unruhe entsprang, der Unfähigkeit, still zu sitzen und lange auf einen Punkt zu sehen, ohne ein Wort zu sagen. Nicht, daß sie sich nicht konzentrieren konnte. Aber Schach ist Stoik gepaart mit der Befähigung zu deduktiver Logik, und Gretchen war weder stoisch noch logisch. Pausenlos mußte sie sich selber dazwischenreden. Hatte ständig tausend Sachen im Kopf, die alle irgendwie wichtig waren. Wenn sie verlor, dann, weil Schachfiguren keine Menschen waren, die sie nämlich weit mehr interessierten als ein auf abstrakter Logik fußendes System. Ihre Welt waren die Randbereiche der Prognostizierbarkeit, wie ich später erfahren sollte, wo Ordnung sich im Chaos verzweigt. Was anderen formlos schien, erkannte sie als strukturiert. Sie beschritt Freudsche Labyrinthe und fand Wege ins Innenleben, die zuckten und sich wanden und ihre Richtung änderten, Serpentinen der Seele, je verschlungener, desto lieber.
Aber ich greife vor.
Eigentlich will ich nur sagen, es war logisch, daß sie auf der starren Oberfläche eines Schachbretts scheitern mußte. Und das tat sie dann ja auch. Zu meinem unbedingten Vergnügen.
Diese letzte Schachpartie leitete eine Phase extrem streßreicher Tage für mich ein. Gretchen sah ich lange nicht. Als ich sie endlich wieder besuchte, kam sie mir verändert vor. Ihr Gesundheitszustand war, soweit ich wußte, stabil mit Anzeichen der Besserung, daran konnte es also nicht liegen. Ich fragte sie, ob irgend etwas nicht in Ordnung sei.
»Vielleicht«,
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