Keine Angst
und konnte ums Verrecken nicht mehr einschlafen. Also lief ich ein bißchen auf dem Flur herum. Ich begegnete keinem Menschen und hatte einen Höllendurst, aber die Nachtschwester war wohl unterwegs, ihr Zimmer war jedenfalls leer. Ich wollte schon umkehren, da sah ich ein Stück weiter, kurz vor dem Durchgang, der zum Treppenhaus führt, langsam eine Tür aufschwingen. Fein, dachte ich, vielleicht ist sie da hinten, und ging rüber, um sie wegen einer Limo anzubetteln oder was. Im Näherkommen konnte ich ein Stück weit hineinsehen in das Zimmer. Da stand ein Vergrößerungsspiegel auf einem Schränkchen …«
»Das Zimmer ist ein Waschraum.«
»… und plötzlich tauchte ein Stück Mensch darin auf!«
»Was, im Waschraum. Ein Stück?«
Sie wischte meine Worte mit einer ungeduldigen Geste fort. »In dem Spiegel! Ein Stück Schulter vielleicht oder Rücken, schwer zu sagen. Das ist ein Hohlspiegel, er verzerrt die Proportionen, aber im Focus war etwas deutlich zu erkennen, ein besonderes Merkmal.« Sie zögerte. »Haben Sie schon mal schlecht verheiltes Gewebe gesehen, nachdem eine Tätowierung weggeschliffen wurde? Glatte, glänzende Spuren. Wie straffgezogenes Zellophan. Die Person in dem Raum hatte solche Narben. Zwei konzentrische Kreise.«
Sie schwieg.
Ich schwieg zurück.
»Gretchen«, sagte ich schließlich mild, »ich leite dieses Krankenhaus seit fast zwei Jahren. Diverse Chefärzte sind meine Freunde, andere vielleicht erbitterte Widersacher. Aber keiner von denen ist ein Killer. Mir sind die Vitae sämtlicher Oberärzte, Assistenzärzte, AIPs und PJs hinreichend bekannt. Mit dem Leitenden Verwaltungsdirektor verbindet mich die Liebe zur Oper, der Stellvertretende geht mit, weil er denkt, das muß so sein. Ansonsten ist mir die komplette Verwaltung, ob Einkauf, Personal, Hygiene und so weiter, schon dermaßen auf die Nerven gegangen, daß ich nicht umhin kam, jeden einzelnen persönlich kennenzulernen. Das sind alles anständige Leute. Niemand, dem ich auch nur ansatzweise eine psychopathische Vergangenheit zutraue.«
»Wenn schon.«
»Wollen Sie ernsthaft behaupten, einen Mörder gesehen zu haben, nur weil Ihnen im Vergrößerungsspiegel irgendwelche Narben erschienen sind?«
»Die Kreise waren deutlich zu sehen«, beharrte sie. »Natürlich habe ich es vorgezogen, die Flucht zu ergreifen, weshalb ich über die Person ansonsten nicht viel sagen kann. Männlich, weiblich, keine Ahnung. Hab ja nur die Spiegelung gesehen, das kleine bißchen.«
»Gut«, räumte ich ein. »Nehmen wir an, das Symbol existiert. Exemplarisch als verbindendes Element innerhalb einer Gruppierung, sagen wir einer Sekte. In diesem Fall kämen Tausende von Menschen in Frage, die es tragen oder getragen haben, ob als Schmuck oder Tätowierung oder was auch immer. Ich meine, würden Sie jemanden für einen Killer halten, bloß weil er ein Kreuz um den Hals trägt?«
»Doktorchen, Sie sind verstockt. Ich bezweifle überdies, daß der Verbreitungsgrad jener Kreise dem des Kreuzes auch nur annähernd gleichkommt. Aber die Diskussion taugt eh nichts. Ich weiß nämlich mittlerweile, was die Kreise bedeuten.«
»Heraus damit!«
»Nach meinem nächtlichen Erlebnis habe ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Es gibt da eine Bande von Studenten, die mir zuarbeiten.«
»Die Burschen, die Ihnen ständig Unterlagen bringen?«
»Richtig. Einer ist fündig geworden.«
»Machen Sie’s nicht so spannend.«
»Schon mal was von der Kirche der immanenten Liebe gehört?«
»Du lieber Himmel! Nein.«
In ihren Augen loderte der Triumph.
»Eine Abspaltung der christlichen Religion, aber ganz schön durchgeknallt. Die Immanenten bilden eine kleine Gemeinschaft. Anders als die Zeugen Jehova gehen sie nicht auf die Straße und versuchen Schäfchen zu rekrutieren. Ihr Symbol ist auch nicht das Kreuz, weil sie Christus für einen Betrüger halten. Seltsamerweise, obwohl sie sich auf viele Passagen des Alten Testaments berufen, haftet ihrer Religion etwas Pantheistisches an. Sie glauben an eine universelle Weltliebe – das Göttliche – und betrachten sich selber als in diese Liebe hineingeboren. Der innere Kreis kann aber auch für ein Kind stehen, das in die Liebe der Mutter hineingeboren wird. Dieser innere Kreis ist zeitlebens dem äußeren unterworfen. Er muß Liebe nach außen geben, damit der äußere sie wiederum nach innen abstrahlen kann.«
»Was für ein Unsinn.«
»Eine gegenseitige Speisung. Den Teufel gibt’s natürlich
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