Keine Angst
tun, wenn wir krank werden. Wenn es zu spät ist, reiben wir uns die Augen und zeigen uns verwundert, daß überhaupt was passieren konnte. Als Folge versuchen wir auszumerzen, was uns krank macht. Erst verhalten wir uns reaktiv, dann aggressiv. Warum heißt das hier Krankenhaus und nicht Gesundheitshaus? Warum verurteilen wir Verbrecher, anstatt ihre Verbrechen zu verhindern?«
»Weil Rache vor Verständnis kommt«, sagte ich. Unterschwellig spürte ich, daß sie die ganze Diskussion vom Zaun gebrochen hatte, um mich auf ihre Seite zu ziehen. »Sehen Sie, ich zweifle ein bißchen an der Lauterkeit Ihrer Absichten. Sie wollen, daß ich die Notwendigkeit kapiere, eine Treibjagd vom Zaun zu brechen aufgrund einer vagen Beobachtung. Meines Erachtens wollen Sie Beute machen. Sie wollen Ihre Brillanz als Analytikerin unter Beweis stellen.«
Ich hatte damit gerechnet, daß sie es empört abstreiten würde. Statt dessen sah sie mich ruhig an und sagte: »Stimmt. Ich bin eitel.«
Ich schwieg.
»Ich glaube aber auch, in besonderer Weise befähigt zu sein, Zusammenhänge zu erkennen. Wenn mein Gefühl mir sagt, daß der Mörder hier ist, dann ist er hier.«
»Warum gehen Sie dann nicht zur Polizei?«
»Erstens liege ich hier auf Eis. Zweitens gehe ich erst zur Polizei, wenn ich Beweise habe. Ich meine, konkrete Beweise, weil die nämlich genauso reagieren würden wie Sie.«
»Mir ist nur nicht klar, was Sie überhaupt von mir erwarten? Was haben Sie eigentlich vor?«
»Dem Mörder eine Falle stellen. Das habe ich vor.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Gretchen, warum machen Sie das alles? Angenommen, Sie haben recht, warum begeben Sie sich dann in Gefahr? Sie sind weder rothaarig noch Ende vierzig. Sie haben doch gar nichts von ihm zu befürchten. Lassen Sie ihn zufrieden, dann wird er auch Sie zufrieden lassen. Unterdessen tun wir hier was gegen Ihren Hochdruck, und Sie werden hundert Jahre alt. Einverstanden?«
Ein spöttisches Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Um es noch einmal zu wiederholen, ich bin eitel. Es macht mir Spaß, solche Nüsse zu knacken. Wenn bei alledem noch was Gutes dabei rauskommt – um so besser.«
Mir fiel nichts ein, was ich dagegenhalten sollte.
»Sie wühlen in den Menschen rum, ich wühle in den Menschen rum«, sagte sie. »Sie wollen nur das Beste, ich will nur das Beste. Mittlerweile sind Sie ärztlicher Direktor, verdienen mit Sicherheit ein Schweinegeld und küssen jeden Tag ihr Spiegelbild. Tja …« Sie legte den Kopf in den Nacken, streckte sich und gähnte herzhaft. »Wie sagt man in Köln? Vun nix kütt nix.«
Ihr Plan war denkbar einfach.
»Wir werden in zwei Schritten vorgehen«, erläuterte sie mit vor Eifer geröteten Wangen. »Wenn wir ihn …«
»Oder sie«, ergänzte ich der Ordnung halber.
Sie grinste.
»… oder sie aus der Reserve locken wollen, haben wir nur eine Möglichkeit. Den Mörder mit dem Symbol der immanenten Liebe zu ködern.«
»Immanente Liebe, so ein Blödsinn«, brummte ich. »Übrigens haben Sie mir bis jetzt lediglich gesagt, daß Sie die Person im Waschraum für den Killer halten. Mich würde interessieren, warum. Und warum einer aus dem Krankenhaus und kein Patient?«
»Das ist doch wohl klar.«
»Mir nicht.«
»Erst einmal: unser Unbekannter hat sich der schmerzlichen Prozedur unterzogen, das Symbol entfernen zu lassen. Was zwei Gründe haben kann.«
»Er hat sich von den Immanenten losgesagt.«
»Oder aber aus Angst vor Entdeckung gehandelt. Was immer ihn zwanghaft dazu verleitet, die Kreise auf die Körper seiner Opfer zu malen, er begibt sich damit in Gefahr. Er kann sich in keinem Freibad sehen lassen, nirgendwo darf er sich unbekleidet zeigen. Also läßt er das Symbol entfernen. Wenn er sich den Immanenten nach wie vor zugehörig fühlt, wird er ihre Lehren eben in seinem Herzen tragen.«
»Wie romantisch«, höhnte ich.
»Und wenn nicht«, fuhr sie unbeeindruckt fort, »Stellt es erst recht kein Problem für ihn dar. Seltsamerweise tendiere ich zu der Vermutung, daß die Kreise mittlerweile etwas anderes für ihn bedeuten, gar nicht so sehr den Glauben an die Sekte als vielmehr eine Erinnerung, eine Reminiszenz, einen Fetisch, irgendwas in dieser Richtung.«
»Warum glauben Sie das?«
»Weiß ich noch nicht. So, zweitens: Die erste Leiche wurde an der Uni gefunden, wo man Medizin studieren kann.«
»Oder auch was anderes.«
»Richtig. Aber der zweite Mord geschah in einem Krankenhaus. Ich habe mir in den letzten Tagen noch
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