Keine Angst
Chance, den Blödsinn zu vergessen und jeder in sein Bett zu gehen.«
»Auf keinen Fall. Sie werden doch jetzt keine kalten Füße kriegen?«
»Ich komme mir vor wie ein kompletter Idiot. Ich leite ein Krankenhaus und bin ein angesehener Mann. Was tue ich eigentlich mit einer durchgedrehten Psychologin nachts um zwölf in einer Besenkammer?«
»Die Welt vom Tyrannen befreien«, deklamierte sie.
Jetzt schlug sie mir auch noch den alten Schiller um die Ohren.
Angespannt sah sie nach draußen.
»Es wird komisch sein, sich plötzlich einem Menschen gegenüber zu sehen, der fünf Frauen die Hände abgeschnitten hat«, sagte sie.
»So was sollten Sie sich nicht mal wünschen.«
Sie lächelte.
»Wissen ist Macht. Und ich weiß inzwischen mehr über den Mann, als er je vermuten würde.«
Ich horchte auf.
»Wieso Mann?«
»Was?«
»Sie haben Mann gesagt. Es könnte ebensogut eine Frau sein. Abgesehen davon, daß es eh niemand ist.«
»Glaub ich nicht mehr. Ich hab viel nachgedacht die letzten Stunden.«
»Und? Was haben Sie rausgefunden?«
»Ich schätze, das meiste.«
In ihrer Stimme schwang ein leichtes Zittern mit. Sie ließ langsam und hörbar den Atem entweichen.
Plötzlich begriff ich, daß sie Angst hatte.
Das war gut. Vielleicht würde die Angst schaffen, was mir nicht gelungen war, und sie von ihrem unheilvollen Jagdfieber heilen.
»Erzählen sie.«
»Ich habe mich noch mal näher mit der Kirche der immanenten Liebe beschäftigt«, raunte sie. »Mit Schwerpunkt auf immanent. Was soviel heißt, als daß dieses Liebesgetue nicht auf freiwilliger Basis abläuft. Die Immanenten sagen, ein Kind kommt auf die Welt und trägt die Liebe in sich, sie ist ihm vermöge des göttlichen Plans eingegeben. Es ist seine Pflicht, sie an den äußeren Kreis, also die Mutter, die Familie und die Gemeinschaft, weiterzugeben, um im Gegenzug welche zu empfangen. Unter Liebe verstehen die allerdings Sklaverei. Tut das Kind nicht, was die Eltern sagen, wirft man ihm vor, die Eltern –und Gott – nicht zu lieben. Wenn es keine Liebe gibt, bekommt es ergo auch keine zurück. Der einfachste Weg, einem Kind das Rückgrat zu brechen, ist Liebesentzug. Ich glaube, diese Kirche der immanenten Liebe ist eine Kirche der immanenten Verzweiflung, des Psychoterrors und der kollektiven Gleichschaltung. Jede individuelle Regung kann als Egoismus ausgelegt werden, und Egoismus heißt, Liebe für sich zu behalten. Unter den Immanenten gibt es übrigens durchaus angesehene und erfolgreiche Leute. Das kommt ganz auf die jeweilige Familie und Gemeinschaft an. Eltern, die es gerne sähen, wenn ihre Sprößlinge Karriere machten, werden Liebe dementsprechend definieren, daß die Kinder ihre Erwartungen einlösen.«
»Was heißt das für unseren Mörder?«
»Ich denke, er ist so einer, den man zur Karriere getrieben hat. Wieviele hochrangige, oder sagen wir bedeutende Chirurgen arbeiten hier?«
Ich rechnete nach.
»Fünf: Ein Chefarzt und vier Oberärzte.«
»Mhm.«
»Gretchen, vergessen Sie’s. Ich kenne die alle ziemlich gut. Wenn die einem was abschneiden, ist das offiziell.«
Ich spürte, wie sich ihre Hand auf meinen Unterarm legte. Sie wandte mir ihr Gesicht zu und lächelte in der Dunkelheit. Ihre Augen glänzten vom hereinfallenden Licht der Neonbeleuchtung im Flur.
»Sie machen immer noch einen elementaren Fehler, Doc. Sie denken, man merkt dem Psychopathen seinen Wahnsinn an. Das Gegenteil ist der Fall. Erinnern Sie sich, am Grunde der chaotischen Strukturen findet sich immer wieder das Abbild der Ordnung. Bei sogenannten normalen Menschen zeigen sich beide Komponenten ausbalanciert und reduziert auf einen gemäßigten Mittelwert. Anders, wenn jemand an einer endogenen Psychose leidet, im häufigsten Fall an Schizophrenie. Facetten der Persönlichkeit entwickeln sich voneinander weg. Die Grenze zwischen Ich und Außenwelt verschwimmt. Eigene Körperteile, Gedanken und Gefühle erscheinen fremd, als steuere sie eine fremde Macht. Man hört Stimmen! Zerfahrenheit, Sprunghaftigkeit, plötzlicher Abbruch gedanklicher Prozesse, Überbewertung von Nebensächlichkeiten, das sind die typischen Symptome. Harmlose Kleinigkeiten wachsen sich im Hirn des paranoiden Schizophrenen zu Bedrohungen aus, deren Bekämpfung nur möglich wird durch die Erschaffung einer zweiten Persönlichkeit. Und so weiter und so fort. Wenn man das alles hört, sollte man glauben, einen geifernden Irren vor sich zu haben. Seltsamerweise ist das nicht so.
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