Keine Angst
Verzweigungen untersuchen, wäre auch sie zusammengesetzt aus selbstähnlichen Strukturen.«
»Der fraktale Aufbau der Welt, ich weiß. Ein Wolkenberg besteht aus vielen kleinen Wolkenbergen, die ähnlich aussehen wie der große, jeder der kleinen aus noch kleineren, und so weiter. Aber das ist Mathematik.«
»Das ist die Beschreibung des Universums. Was ich sagen will, ist, daß auch der Geist eines Wahnsinnigen, dessen Verzeigungen im Chaos nicht berechenbar erscheinen, nach Ordnungsprinzipien funktioniert. Wenn Sie die bunten Aus-läufer an den Rändern der Mandelbrotmenge, des schwarzen Reichs der Ordnung, betrachten, scheinen sie sich in immer neue, unvorhersagbare Richtungen zu entwickeln. Aber bei millionenfacher Vergrößerung entdecken sie plötzlich winzige schwarze Punkte darin, Abbilder der Mandelbrotmenge, perfekte Ordnung, die jeder noch so chaotischen Struktur zugrundeliegt. Hinsichtlich des Psychopathen kann die Ordnung die Melodie sein oder eine Mondphase oder ein Duft. Verstehen Sie? Jack the Ripper, Stalin, Hitler, Charles Manson, jede ihrer Taten basierte letzten Endes auf Ordnung. Wir hätten sie berechnen können.«
»Aber ein menschliches Hirn«, wandte ich ein, »ist kein Computer. Dieser Grenzbereich der Mandelbrotmenge, diese fraktalen Ausläufer entstehen meines Wissens nur im Rechner.«
»Der Rechner ist ein Medium, um universelle Prinzipien darzustellen. Er zeigt Idealzustände. Es gibt im wirklichen Leben keine reine Linearität, keine perfekte Ordnung. Aber eben auch kein völliges Chaos. Endlose Reihen von Zufällen bergen Inseln der Prognostizierbarkeit. Bloß, die Menschen wollen immer im vorhinein alles hübsch ordentlich erklärt haben, und was sie nicht verstehen, versuchen sie gemäß ihres starren Ordnungsverständnisses zu lösen, was natürlich danebengeht.«
»Mal am Rande gefragt, wie bringt uns das jetzt weiter?«
Sie sah mich überrascht an, dann lachte sie.
»Tut mir leid, das war wohl ein bißchen viel. Ich wollte klarmachen, warum wir Analytiker jede Kleinigkeit so sehr sezieren. Allen noch so bizarren Verbrechen liegt eine ganz simple und für jeden verständliche Erklärung zugrunde. Die Verwirrungen im Kopf des Psychopathen entstehen aus ganz einfachen Ursachen. Es mag schwerfallen, Mitleid zu empfinden mit einem Charles Manson oder gar einem Marc Dutroux. Aber wir sollten uns dennoch mehr mit ihnen befassen, um die Taten anderer im Vorfeld zu verhindern. Unsere Gesellschaft hat nur gelernt, zu verurteilen, was nicht ins Schema paßt. Nicht aber, das Schema zu verlassen, um das Andersartige, im neutralen Sinne Abartige, um den wahnsinnigen und verbrecherischen Geist, zu verstehen. Diese Ignoranz hat fatale Folgen. Man hätte Jack the Ripper fassen können.«
»Ist das Ihr Ehrgeiz?« fragte ich.
»Ja. Der Mann, der die Hände abschneidet, ist wahnsinnig. Ich will die Insel der Ordnung in dem Wahnsinn finden. Nur von dort aus kann man ihn stoppen.«
»Pardon, aber das ist das Einmaleins der Psychoanalyse. Das ist doch nichts Neues.«
»Nein. Und doch. Wir halten uns für geistig gesund, darum tun wir uns so schwer mit den Verrückten. Dabei ist jeder ein bißchen irre. Ein bißchen wahnsinnig. Ein bißchen psychopathisch. Würden wir das erkennen und die Erkenntnis nutzen, kämen wir den Verrückten und Verdrehten auf die Spur, bevor sie anfangen, Mist zu bauen.«
»Sie wissen, was das nach sich ziehen würde? Verur-teilungen ohne Beweise. Wollen Sie jemanden aufgrund der Vermutung einsperren, er könne jemanden töten?«
»Wenn es sein muß.« Sie machte einen Augenblick Pause, wie um die Wirkung ihrer Worte abzuschmecken. »Nein, natürlich nicht. Ich weiß, daß das falsch wäre.«
»Es wäre fatal.«
»Fatal ist aber auch, daß hierzulande erst das Schlimmste passieren muß, bevor man etwas unternimmt. Unser Verfolgungssystem, unsere Justiz, nein, unser ganzes Denken ist darauf ausgerichtet, den Mörder seinen Mord begehen zu lassen. Sie können offen ankündigen, jemanden töten zu wollen, und niemand wird etwas gegen Sie unternehmen. Der Bedrohte kann noch so oft zur Polizei gehen, er hat keine Chance. Er muß sich erst ermorden lassen, damit man ihm beisteht, was ja wohl paradox ist. Finden Sie das richtig? Sie als Arzt?«
Ich wußte, worauf sie hinauswollte.
»Wenn Ihr Krankenhaus die Gesellschaft repräsentiert«, fuhr sie erwartungsgemäß fort, »dann sehen Sie auch, woran die Gesellschaft krankt. Wir beginnen, etwas für die Gesundheit zu
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