Keine Angst
nicht, wenn sie so hübsch war wie Gretchen Baselitz.
Aber versprochen war versprochen.
»Um halb acht«, sagte ich und legte auf.
Um zwanzig vor acht wußte ich erstaunliche Dinge über Vergrößerungsspiegel und dafür immer weniger, wo das alles noch hinführen sollte.
Gretchen hatte sich ein Blatt an die Schulter geheftet und zwei Kreise darauf gemalt, den inneren fünfmarkstückgroß, den äußeren vom Durchmesser eines Kölschglases. Sie hatte das Symbol so dünn mit Bleistift aufschraffiert, daß es kaum zu erkennen war. Ich mußte mich auf den Flur stellen, wo sie gestanden hatte, und den Spiegel im Auge behalten, während sie im Waschraum verschwand.
Und plötzlich, als sie selber meinem Blickfeld schon entschwunden war, sah ich die Kreise.
Tatsächlich war das Resultat abhängig von der Konstellation. Je nachdem, wo sich die Personen befanden und in welchem Winkel sie zu dem Spiegel standen, zeigte er sehr wohl ein klares Bild. Im Zentrum der Linse erschien Gretchens Schulter, stark vergrößert, so daß man nur einen kleinen Ausschnitt erkannte. Aber er reichte, um die Kreise deutlich zu erkennen.
Ich bewegte mich einen Schritt nach vorne. Sofort verschwamm das Bild.
»Bravo«, rief ich und klatschte in die Hände.
Sie nahm meinen Applaus gelassen.
»Ich wußte, daß ich recht hatte.«
»Was trotzdem noch nicht viel besagt«, gab ich zurück. »Ich bin keineswegs der Meinung, daß Sie deswegen gleich einen Serienmörder herbeiphantasieren müssen.«
»Nennen Sie es Intuition«, sagte sie. »Ich spüre ganz einfach, daß er es ist.«
»Ach, Gretchen. Hören Sie mir auf mit weiblicher Intuition.«
»Ich meine nicht diesen Blödsinn, von wegen eine Frau spürt das, Frauen sind anders als Männer, und so. Ich rede von der Fähigkeit, Zusammenhänge intuitiv zu erfassen, weil man sich irgendwann die Mühe gemacht hat, die Ursachen zu verstehen.«
»Solange Sie Ihren ominösen Killer nicht kennen, können Sie auch die Ursachen nicht kennen. Ich kann keine Krankheit diagnostizieren ohne Patient.«
»Doch, wenn Sie die Symptome kennen.«
»Auch dann nur auf allgemeiner Basis. Individuelle Aussagen kann ich erst nach eingehender Untersuchung treffen.«
»In der Psychoanalyse gibt es Muster. Allein so ein Spiegel hat schon was von der Persönlichkeit eines Psychopathen. Mal vollkommen klar, dann wieder verzerrt. Man muß sich auf Ideen bringen lassen.«
»Welch passendes Bild«, sagte ich spöttisch.
»Vor allem ein berechenbares Bild! Erinnern Sie sich, selbst dieser komische Spiegel ist berechenbar. Alles eine Frage von Distanz und Winkel.« Sie ließ ihren Zeigefinger an der Schläfe kreisen. »Anfälle von Geistesgestörtheit vollziehen sich in Zyklen. Man kann Verbrechen, die von Geisteskranken begangen werden, prognostizieren, wenn man sich um Verständnis ihrer Denkweise bemüht. Und die ist eben nicht linear, sondern folgt beispielsweise Gesetzen, wie sie uns die Chaosforschung lehrt.«
»Mhm, schon klar. Langanhaltende Zustände der Ordnung kollabieren urplötzlich und ohne ersichtlichen Grund.«
»Oder auch umgekehrt. Chaotische Zustände synchronisieren sich zu ordentlichen Strukturen.«
»Sie arbeiten mit Chaostheorie?«
»Ja. Sagt Ihnen der Begriff Mandelbrotmenge was?«
Ich überlegte. »Das ist irgendwas mit linearen Gleichungen, oder?«
»So ungefähr«, nickte sie. »Die Summe aller linearen Zahlen, sichtbar gemacht am Computer von Benoit Mandelbrot als Grafik. Die Mandelbrotmenge ist wie ein schwarzes Land. Manche sehen darin auch ein dickes Männchen, aber ich fand immer, daß sie mehr einer symmetrischen Insel gleicht. Alles innerhalb der Mandelbrotmenge ist linear, also endlich, und berechenbar. Jenseits der Menge hegt die endlose Ebene der nichtlinearen Zahlen, also das vollkommene Chaos. Rechnet man nun eine lineare Zahl aus der Menge mit einer nichtlinearen aus der Ebene hoch, bildet das schwarze Land Ausläufer, die sich im Chaos verzweigen. Man kann so gut wie nicht vorhersagen, wie und wohin sich diese Ausläufer entwickeln werden. Hoch-spannend. Da entstehen Strukturen, die ebenso schön sind wie verwirrend, psychedelische Muster von filigraner Faszination. Eisblumen am Fenster kommen dem sehr nahe. Der Betrachter findet auf den ersten Blick keine Ordnung. Ver-größert man allerdings Ausschnitte einer solchen scheinbar zufälligen Verzweigung, stellt man fest, daß sie selber viele Verzweigungen bildet, die der großen ähneln. Und würde man eine der kleinen
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