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Keine Angst

Keine Angst

Titel: Keine Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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als sie jetzt darstellte. Hinter den zerknitterten, aufgedunsenen Zügen schaute ihn aus ferner Vergangenheit ein schönes Gesicht an. Was war aus ihr geworden?
    »Gehen Sie oft hierhin?«
    Sie nickte.
    »Ein-bis zweimal die Woche sicherlich. Seit Jahren. Mein eigenes Wohnzimmer ist mir fremd geworden.«
    Mittlerweile hatte er sie da, wo er sie hinhaben wollte. Der Augenblick nahte, da die Alten ihre Rückreise in die Vergangenheit antreten. Auch sie würde aus der Zeit erzählen, bevor der Frost über ihr Lächeln gekommen war, und er würde erfahren, ob sich das Ködern gelohnt hatte oder nur eine Flut durcheinandergebrachter Erinnerungen über ihn hereinbrach. Austauschbares, pointenloses Zeug von schlechter Zeit und guter Butter, tausendmal gehört und keine Druckerschwärze wert. Manche verstanden es, den Zuhörer zu fesseln. Andere drehten endlose Pirouetten über den Schauplatz ihres Lebens, daß man kaum die Augen offenhalten konnte.
    Nur eines war allen gemeinsam: Die tragische Sinnlosigkeit, mit der sie erzählend etwas einzuholen suchten, das unwiederbringlich hinter ihnen lag. Mit jedem Wort, jeder Wiederholung des ewig Gleichen erkannten sie nur um so schmerzlicher, daß es keine Erlösung gab, und sie verloren ihre Lebenskraft an die Toten.
    Die Uhr lief.
    »Das müssen Sie mir erklären«, sagte der Sammler. »Was ist mit ihrer Wohnung nicht in Ordnung?«
    Um ihre Augen entstanden zusätzliche, kleine Fältchen, als ihr Lächeln breiter wurde. »Oh –«, sie schnalzte mit der Zunge, »die ist gar nicht mal übel. Mein Wohnzimmer am allerwenigsten. Sie würden es altmodisch nennen, schätze ich, aber damals war alles sehr modern und sehr kostspielig. Alle meine Möbel sind furchtbar teuer.«
    »Klingt doch gut.«
    »Trotzdem gefällt’s mir nicht. Obwohl es schön ist. Wissen Sie, ich hab Leute erzählen hören, wie schön meine Wohnung sei.« Sie machte eine Pause. »Erinnert mich an Schottland, als ich jung war und wir viel gereist sind. Damals, in den zugigen Highlands, waren wir oft zu Gast bei Familien, deren Mittel nicht reichten, um uns zu beköstigen. Sie boten uns ein Bett und wärmten unsere Nacht mit ihren Herzen. Das war, bevor wir zu Geld kamen. Ist lange her. Es gab so gut wie keine Restaurants in Schottland zu der Zeit. Aber wenn sich denn doch in näherer Umgebung eines fand, vorbehalten den wenigen Besuchern aus Glasgow, Edinburgh oder den wohlhabenden Engländern, und wir fragten unsere Landlady, ob sie es empfehlen könne, dann wischte sie sich die Hände an der Schürze ab und sagte sehr ernsthaft: Well, I haven’t been there, but they say, it is very expansive. For sure you will have a pleasent evening. Verstehen Sie? Very expansive war very good, daran gab es keinen Zweifel. Und nie war einer von denen, die uns diese Restaurants empfahlen, dort gewesen. Sie wußten es von einem, der einen kannte, der dort gewesen war. Manchmal komme ich mir vor wie eine dieser gutdurchbluteten irischen Hausfrauen. Ich spreche von meiner Wohnung und sage, sie sei schön, weil andere es sagen, aber mir scheint, als sei ich niemals dort gewesen. So eine schöne Wohnung, beteuert jeder, die hätt ich für mein Leben gern, und jedesmal fühle ich mich versucht zu sagen, ja, ich auch. Obwohl es doch meine ist. Komisch, nicht? Denken Sie jetzt, die Alte hat einen sitzen?«
    Der Sammler schüttelte den Kopf.
    »Sie müssen doch selber am besten wissen, ob Ihre Wohnung schön ist«, sagte er und lachte melodiös, damit sie Vertrauen faßte.
    Eine ihrer Hände kroch langsam über die andere und zupfte daran herum. »Ich weiß nicht, was schön ist. Teuer vielleicht? Ich weiß nicht.«
    Der Sammler schwieg. Ihm fiel auf, wie unbehaglich sie sich in ihrer gestärkten Bluse zu fühlen schien, als könne sie sich an den Falten schneiden. Die Finger ihrer Rechten spreizten sich. Behutsam führte sie ihr Kölsch an die blutleeren, seltsam glatten Lippen, trank in bedächtigen kleinen Schlucken und stellte das Glas mit quälender Langsamkeit auf den Deckel zurück, exakt in die Mitte. Alles an ihr war eine einzige Selbstkontrolle.
    »Ich war so lange weg«, sagte sie traurig. »Da wird einem manches fremd, verstehen Sie? Sogar die eigene Wohnung. Früher war ich gerne mehr zu Haus geblieben, aber mein Mann fand keine Ruhe, er wollte immerzu nur raus und das Leben umarmen. Und wir konnten’s uns ja auch leisten. Da sind wir oft hierhergegangen – damals war das was besonderes, ins Brauhaus zu gehen, gleich nach

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