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Keine Angst

Keine Angst

Titel: Keine Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Schwätzer und Philosophen erneut Einzug hielten, die Gladiatoren und Silbenfechter, geeint von der Ruppigkeit der Köbesse, würde auch er wieder da sein, die Netze auswerfen und die Fallen stellen.
    Er trank aus, stellte das leere Glas mit einem Schmatzen vor sich hin und erhielt zu seiner Verblüffung gleich ein volles.
    Ah, letzte Runde!
    Auch gut. Das Schicksal hatte offenbar beschlossen, ihn noch einige Minuten am Totenreigen teilhaben zu lassen. Mit einem Seufzer der Ergebenheit – zumal es niemanden gab, der ihn gleichwo erwartete – fügte er sich. Sein Gesicht, durchgestrichen von einem dicken schwarzen Schnurrbart, nahm für Sekunden den Ausdruck Dirk Bogardes in der Rolle Aschenbachs oder vielmehr der Karikatur Gustav Mahlers an, als er sich in süßer Vorahnung seines Todes zum Lido rudern läßt.
    Der Köbes kassierte und ging den Rest seines Kranzes verteilen. Die Augen des Sammlers folgten ihm, streiften eine alte Frau, die allein vor einem halbvollen – oder auch halbleeren – Glas kauerte, als einzige im großen angrenzenden Saal, hefteten sich dem Köbes wieder auf den Rücken und wanderten zurück zu der Alten.
    Hm …
    Eine karierte Bluse, vor lauter Stärke kubistisch verknickt. Rot mit weißen Blumen oder irgendwas ähnlich Ornamen-talem. Aus den Manschetten ragten knochige Handgelenke und Hände, deren Finger einander zu belauern schienen. Den Kopf verunzierte eine Perücke, die sicher furchtbar teuer gewesen war und doch so grauenhaft künstlich aussah, daß es dem Sammler geradezu würdelos erschien, das Gesicht darunter ein einziges Hängen.
    Ihre Einsamkeit füllte den Raum.
    Sofort erwachte sein Interesse. Allein, was ihr einfallen mochte, sich mit einer derart unmöglichen Kopfbedeckung in die Öffentlichkeit zu trauen! Besaß sie keinen Spiegel? So sehr beschäftigte ihn die Frage, daß er seinen Blick nicht von ihr lassen konnte, und plötzlich fiel ihm auf, daß an einigen Tischen um sie herum bereits die Stühle hochgestellt wurden. In weiten Teilen des großen Saals hatte man das Licht runtergedreht. Sie saß in all der Aufgeräumtheit, als wolle sie nie wieder fortgehen, und da überkam den jungen Mann das merkwürdige Gefühl, als spiele sich zwischen ihr und diesen hochgestellten Stühlen ein stummer Kampf ab. In gewisser Weise beherrschte sie die Szenerie. Zugleich war es, als halte der dämmrige Saal sie wie eine Gefangene. Niemand kam, um sie zum Gehen zu bewegen, um ihren und die drei Stühle um sie herum ebenfalls hochzustellen und damit die Reihen der nach oben zeigenden Holzbeine zu komplettieren. Allem Anschein nach genoß sie das Recht der Verlorenen, so wie Winston Smith in 1984, nur, daß hier kein Victory Gin ausgeschenkt wurde, sondern Kölsch.
    Dirk Bogarde und Winston Smith! Was stand er hier rum mit den Gespenstern Thomas Manns und George Orwells? Sein Instinkt rief zur Jagd. Die Alte würde Bücher füllen. Wenn sie nichts zu erzählen hatte, wer dann?
    Halali, Sammler! Laß los die Hunde, einzukreisen ihr Zwei-Kriege-Leben, den gefallenen Ehemann und den ältesten Sohn, vor Stalingrad verschollen.
    Schnell nahm er sein Kölsch und sein Notizbuch und ging hinüber in den Saal zu der alten Frau. Vermutlich war die Zeit zu knapp, aber einen Versuch mochte es wert sein.
    »Guten Abend«, sagte er.
    Sie hob den Kopf und sah ihn aus tränenden Augen an.
    »Bißchen spät für einen guten Abend«, meinte sie. Es klang nicht verärgert. Ihre Stimme war so dünn, als reiche ein Windhauch, um sie fortzuwehen.
    Spinnwebfrau, dachte er und gefiel sich im Glanz dieser neuen Wortkreation. Sie ist eine Spinnwebfrau.
    »Setzen Sie sich«, sagte die Spinnwebfrau.
    Umständlich zog er den ihr gegenüberliegenden Stuhl unter der Tischplatte hervor und nahm auf der Kante Platz.
    »Störe ich?« Klassische Eröffnung. »Ich sah Sie so allein da sitzen.« Er prostete ihr zu und lächelte liebenswürdig. »Wenn zwei allein sind, sollten sie sich zusammentun, meinen Sie nicht?«
    Sie nickte ernsthaft, reichte ihm die Tageskarte und bat ihn, ihr die Hauptgerichte vorzulesen.
    Einen Moment lang war er verdutzt.
    »Die Küche hat geschlossen«, sagte er mit der Freundlichkeit der Idiotenwärter.
    Sie hob die Brauen, als sei er seinerseits nicht recht bei Trost. »Natürlich hat sie geschlossen«, gab sie zurück. »Es ist kurz vor zwölf.«
    Er starrte sie an, sah wieder auf die Karte und schüttelte den Kopf.
    »Warum wollen Sie dann wissen, was da steht?«
    »Kann’s nicht lesen

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