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Keine Angst

Keine Angst

Titel: Keine Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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die Vorsehung oder den Erzengel Gabriel. Dann wird alles gut.
    Oder auch nicht.
    »Hier, Jung!«
    Die Stange knallte vor ihn hin. Der Bucklige hatte sich erbarmt. Herab fuhr der Bleistift und hinterließ einen fettigschwarzen Strich auf Deckel und Holztisch, womit der Sammler offiziell eingeschrieben war in die Loge der Brauhausgäste und ihre geheimnisvolle Satzung, die es gebietet, seine intimsten Geheimnisse dem Trost von Fremden anzuvertrauen.
    Er sog die reiche, fette Brauhausluft in sich hinein und trank. Wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, philosophierte einen Augenblick lang über das Universum und den Sinn des Lebens, seufzte und trank noch einmal. Dann, gekräftigt und guter Dinge, ließ er seinen Blick von der Kette und die schummrigen Ecken ausschnüffeln.
    Schnell wurde ihm klar, daß er zu spät gekommen war. Während sich Wurstwilli das Sandmännchen aus den Augen rieb, klammerten sich hier die letzten Verbliebenen hartnäckig ans blankgescheuerte Holz. Einem Totentanz nicht unähnlich, dachte der Sammler und gönnte sich ein wissendes Grinsen. Daß du abtreten mußt, ist nicht das Schlimmste. Schlimm ist, daß es dir kurz vor dem Ende vorkommt, als erschaffe sich die Welt aufs Neue, nur ohne dich. Die da sitzen, haben vielleicht um zehn noch auf die Uhr gesehen und ein vernünftiges Gesicht herumgereicht. Nun, kaum daß die heruntersausenden Rolladen den Abend guilloutinieren, tun sie so, als gebühre dem Augenblick die Ewigkeit. Weggedreht die Köpfe, so wie Kinder wegsehen in der Hoffnung, als Ignoranten selber ignoriert zu werden und weiter fernsehen zu dürfen, hockten sie da und hofften auf die letzte vor der allerletzten Runde.
    Er war eben noch rechtzeitig gekommen, um sich einzureihen. Zu sammeln gab es nichts mehr. Keiner von denen hatte noch was zu verkaufen. Wer seine Geschichte jetzt nicht losgeworden war, der nahm sie wieder mit nach Hause, ein knitteriges Geheimnis, das den Seelenfrieden ausbeulte, weil es keiner teilen wollte.
    Der Sammler zuckte die Achseln. Austrinken und schlafen gehen. Morgen war auch noch ein Tag.
    Während er mit schaumbekränzter Oberlippe in die Schwemme starrte, überlegte er, wann sie ihn das erste Mal so genannt hatten: den Sammler. Er wußte es nicht mehr. Aber der Name traf die Wirklichkeit ins Herz. Er hieß so, weil er freundlich mit den Menschen redete und sich den Anschein aufrichtigen Mitempfindens gab. Statt dessen machte er Beute. Er erbeutete Schicksale, Gefühle und Biographien, bis er gleich einer überfetten Mücke nach Hause summte, um das Gehörte spaltenbreit zu verarbeiten. Ein, zwei Tage später stand es in der Zeitung. Undenkbar, daß er die Namen seiner Opfer erwähnte, sie hätten ihm die Ohren langgezogen! Er war Journalist, kein Denunziant. Persönliche Schicksale hielt er sich wie Gewürze, verwendete sie sparsam und effektvoll. Die Ausgefragten mochten sich in seinen Glossen, Serien und Spitzen wiederfinden. Aber nie würden sie sich daran erinnern, daß sie einem unscheinbaren jungen Mann erzählt hatten, was das Bier aus einem herausschwemmt im Laufe eines langen Abends.
    Als Folge blieb er unerkannt. Er schrieb wie mit dem Maschinengewehr ins Papier geschossen, kurze, harte Salven. Die Redakteure mochten ihn, weil er sich nicht von Menschenliebe, sondern vom Zynismus leiten ließ, und der gibt nun mal die bessere Tinte ab. Er schrieb und lieferte schneller, als sie drucken konnten, schrieb weiter, schlaflos, emotionslos, trieb sich zu immer neuen Meisterwerken der Geschmacklosigkeit und Trivialität, schrieb und fand kein Ende.
    Dennoch, seine wahre Passion war nicht das Schreiben. Das war die Jagd!
    Schreiben, das Aneinanderreihen von Wörtern, war öde. Pure Arbeit, Handlangerei, ein staubiger, immer gleicher Weg. Er schrieb mit derselben Leidenschaftlosigkeit, wie andere Kartoffeln schälen. Zog ein Blatt aus dem Drucker und sah es nie wieder an. Las nie eine einzige Zeile dessen, was die Zeitungen von ihm druckten. Nahm das Geld und verlor sofort das Interesse an der abgelieferten Arbeit. Man bescheinigte ihm Brillanz, es war ihm gleich. Er vermochte seine Kritiker weder zu bestätigen noch zu widerlegen, weil er ihnen gar nicht zuhörte, sondern längst schon wieder losgezogen war, um einem völlig Unbekannten die Lebensbeichte abzunehmen, indem er falsch und freundlich war und zuhörte.
    Ein letztes Mal ließ er den Blick schweifen und beschloß, das Schiff zu verlassen, das in der Nacht versank. Wenn die

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