Keine Angst
ohne Brille.«
»Aber es gibt nichts mehr. Nichts Warmes.«
Sie lächelte.
Es war ein mildes, ausdrucksloses Lächeln, das ihr ins Gesicht geschnitten schien. So, als habe irgend etwas ihre Mimik schockgefroren, schon vor langer Zeit, und jetzt war da nur noch dieses Lächeln und der Grund dafür vergessen. In ihren Zügen sah der Sammler die Erwartung vergangener Tage, überschattet von der zur Gefährtin gewordenen Enttäuschung, und wußte, daß er ihr ebensogut das Telefonbuch hätte vorlesen können. Sie wollte einfach, daß er etwas für sie tat, auch wenn es sinnlos und sie sich der Sinnlosigkeit bewußt war. Sie würde zuhören, und dann würde sie reden, ohne sich darum zu scheren, ob ihr Gegenüber Interesse zeigte oder nicht. Wie die meisten Alten hatte sie aufgehört zu fragen. Vielleicht, weil die Bitte um Aufmerksamkeit, gestellt in der Gewißheit, daß sie abgelehnt wird, Lebenskraft kostet.
»Die 520.« Er räusperte sich. »Königsberger Klopse in Kapernsauce mit Salzkartoffeln und gemischtem Salat. Wollen Sie auch wissen, was es kostet?«
»Nein.«
»522. Rindergoulasch mit Butternudeln. Ebenfalls gemischter Salat.«
Sie lauschte ihm mit halbgeschlossenen Augen, während er ihr Saure Nierchen vorlas, Jägerschnitzel mit Pommes und Spanferkel mit Weinkraut und Röggelchen.
»Ich hätte die Klopse gegessen«, sagte sie nach einem Augenblick des Schweigens. »Hab ewig keine mehr gegessen. Aber ich konnte ja nicht lesen, was da stand.«
»Und was haben Sie gegessen?«
»Speckpfannekuchen.« Sie kicherte. »Ich esse oft Speckpfannekuchen. Frage jedesmal die Leute, die neben mir sitzen, ob er gut ist, als war ich das allererste Mal hier. Immer sagen sie was anderes. Schon komisch.«
Der Sammler steckte das Blatt mit den Tagesgerichten zurück in die fettiggelbe Speisekarte und entschied sich für ein verschwörerisches Mitkichern.
»Warum tragen Sie keine Brille, wenn Sie so schlecht sehen? Sie könnten mal was anderes essen als Speckpfannekuchen.«
»Brille?« Sie schien ehrlich entrüstet. »Steht mir doch nicht! Hat mir noch nie gestanden.«
Ihr Gesicht war so verrunzelt wie eine drei Monate alte Steckrübe. Nichts stand ihr, die Perücke nicht, deren Gewicht ihr das Kinn auf die Brust zog, und ebensowenig die Bluse, oder, besser gesagt, sie stand den Sachen nicht. Was machte es für einen Unterschied, ob auf der schroffen Klippe ihrer Nase eine Brille balancierte oder keine?
»Ich bitte Sie!« sagte der Sammler nonchalant.
Sie hustete.
Es war ein verlorenes Rasseln am Grund ihrer Kehle, mühsam erzeugt, hohl und häßlich. Ein Räuspern, dem keine Frage nach einer möglichen Erkältung folgen würde, weil niemand mehr da war, sie zu stellen. Ein Endgeräusch.
»Hab nie eine Brille getragen. Mein Lebtag nicht.« Sie schüttelte sich. »Nie eine gebraucht. Ich weiß, jetzt war wohl eine angebracht. Aber den Weg nach Hause finde ich auch so, gehe ja keinen anderen, und mir ist lieber, die Leute lesen mir aus der Karte vor. Haben Sie schon mal versucht, sich mit einer Brille zu unterhalten?«
Der Sammler lachte.
»Nein. Ich seh schon, Sie haben Ihre Tricks.«
Sie richtete sich ein wenig auf, wie um ihren Worten mehr Bedeutung zu verleihen, und beugte den Oberkörper nach vorne. »Wissen Sie was, junger Mann?« Zwischen den geschwollenen Lidern glänzten ihre Augäpfel wie mit Firnis überzogen, vergilbt und rissig. »Es ist eine Farce, alt zu sein, nicht mehr und nicht weniger. Die Leute sehen mich ja kaum noch an, wie ich da neben ihnen hocke. Sind dann alle gegangen, werde ich plötzlich zur wichtigsten Person im Raum. Sie lassen mich hier sitzen. Wenn keiner mehr was zu trinken kriegt, ich bekomme immer noch eines. Immer noch ein letztes und ein allerletztes und so weiter. Wahrscheinlich denken sie, mit der kann’s jeden Tag zu Ende gehen, alt wie die ist. Also erweisen sie mir die Gnade. Nicht daß ich undankbar wäre, auch wenn sie mich mit ihrer Zuvorkommenheit ständig daran erinnern, daß der Vorhang heranrauscht. Aber sobald Gottes Wille offensichtlich wird, daß man nicht mehr lang zu leben hat, genießt man Narrenfreiheit.« Ihre knochige Hand beschrieb eine weitläufige Geste. »Darf ich also vorstellen: Mein Wohnzimmer.«
Der Sammler lächelte sie freundlich an, während er versuchte, sie einzuordnen. Manches von dem, was sie sagte und vor allem, wie sie es sagte, ließ auf gute Erziehung und gehobene Schulbildung schließen. Ihm schien, als sei sie einmal mehr gewesen,
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