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Keine Angst

Keine Angst

Titel: Keine Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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dir, und man hat die Essenzen dutzender verpaßter Festlichkeiten, Einkaufsbummel, Volkshochschulvorträge und intimer Rendezvous genossen. Ich wollte das alles noch mal für mich haben, bevor ich sterbe.«
    Schlemmer sah den Alten unsicher an.
    »Du wirst nicht sterben«, sagte er.
    Koch stieß ein lautes, abgehacktes Lachen aus.
    »Aber sicher werde ich das, und du wirst es auch. Kommt halt drauf an, ob du’s verstehst, dir den passenden Zeitpunkt auszusuchen und die Art und Weise. Ich denke heute, mein Krebstod wird wohl die Strafe für meine Sünden sein, und ich bin wirklich nicht übermäßig religiös. Trotzdem. Jeder stirbt so, wie er es verdient, und ich verdiene nun mal die Einsamkeit. Tja. Hab zu leben versucht, indem ich alles daransetzte, unerkannt zu bleiben, und unerkannt werde ich sterben. Jedem sein Los.«
    Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas, starrte hinein, packte die Flasche und goß nach.
    »Ich glaube nicht an einen Gott, wie ihn die Kirche predigt«, fuhr er fort, »Mir würd’s im Traum nicht einfallen, in ein Gotteshaus zu gehen, um einem Menschen hinter einen Vorhang zu folgen und ihm zu beichten.« Seine Stimme war von erstaunlicher Klarheit. »Und dennoch scheint mir, daß uns allen die Beichte fehlt. Ich meine, das, was ihr Sinn gibt, nämlich mit sich und der Welt ins Reine zu kommen. Mir fehlt sie sehr. Ebenso wie der Glaube, Schlemmer, ja, verzieh nur das Gesicht, der Glaube! Muß ja nicht der Gottesglaube sein – aber wär’s nicht trotzdem schön, an etwas Höheres glauben zu können, daß man sich nicht so umherwälzen muß in der Nacht? Früher war das anders. Gut, ich denke, der Mensch hat niemals wirklich an den Menschen geglaubt, aber wenigstens an einen Schöpfer oder das Schöpferische an sich. Er hat Ehrfurcht besessen, er wußte was mit dem Begriff Demut anzufangen. Wenn der Lebensinhalt eines Menschen darin besteht, über den Tod hinauszudenken, so mag das Pragmatikern wie dir und mir absurd erscheinen, na, wenn schon, es ist immerhin ein Inhalt. Verstehst du? Aber heute laufen sie sich selber hinterher, die Menschen, ich nicht weniger als alle anderen, weil es eben keinen Glauben und keinen Inhalt mehr gibt, dem wir folgen können. Wir sind alle wie Hunde, die ihrem Schwanz nachjagen.«
    Er seufzte tief auf.
    »Dachte mir also, wenn ich schon in keine Kirche gehe, dann beichte ich eben dir, Schlemmer.«
    Schlemmer ruckte hoch und fühlte sein Gehirn langsam nachkommen.
    »Du willst was?«
    »Die Ärzte haben sich noch keine Meinung darüber gebildet, wieviel Zeit mir bleibt. Mit sehr viel Glück kann ich die Krankheit besiegen, mit außerordentlich viel Glück, sollte ich sagen. Du wirst dich doch bestimmt gefragt haben, warum ich inmitten all dieser Puppen lebe?«
    »Naja …«
    »Und ich antworte dir, daß Menschen ohne Glaube und Inhalt in weit ausgeprägterer Weise Puppen sind als diese da.«
    Sein Arm beschrieb eine umfassende Geste.
    »Ich bin ein Menschenfeind geworden, Schlemmer, mein eigener Feind. So was bringt die Freundschaft zu den Puppen mit sich. Wir gehen ins Hänneschen und stellen uns vor, daß sie eine heilere Welt verkörpern als unsere, so, wie die Welt vielleicht sein sollte. Und wir, die Spieler – im Augenblick, da wir sie bewegen, dürfen wir selber einen Moment lang diesem Ideal entsprechen. Die Illusion, Herr einer Puppe zu sein, ist, Puppe zu sein. Was du hier siehst, ist vielleicht die größte Sammlung an Hand-und Stockpuppen der Welt. Es gibt noch angrenzende Zimmer, die Wohnung hat fast zweihundert Quadratmeter. Alles voller Puppen. Gesammelt wie andere Leute Briefmarken. Da bleibt keine Zeit mehr für die Menschen, Schlemmer. Noch ein Glas?«
    Schlemmer nickte verwirrt. Großzügig wurde ihm nachgegossen.
    »Was hast du da eben gemeint«, fragte er, »daß du unerkannt bleiben wolltest?«
    Koch beugte sich vor und griff nach Schlemmers Hand.
    »Ich habe meine Verfehlungen gemeint. Meine Sünden.«
    »Was denn für Sünden, Herrgott noch mal?«
    »Darf ich beichten, Schlemmer? Willst du mir zuhören?«
    Schlemmer rutschte ein Stück tiefer in seinen Sitz und starrte mit Unbehagen auf die fleckige Kralle, die ihn umklammert hielt. Fast meinte er, die Ausdünstung des nahenden Todes riechen zu können.
    »Ja«, sagte er schwer. »Sicher.«
    »Gut!« Erleichterung zeichnete sich in Kochs Gesicht ab. Er ließ Schlemmer los und sank zurück. »Du mußt wissen, daß ich damals, vor einer Reihe von Jahren, nicht einfach Polizist war.

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