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Keine Frage des Geschmacks

Keine Frage des Geschmacks

Titel: Keine Frage des Geschmacks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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und ihr Haar hochgesteckt. Ihr Blick suchte Halt an der am Horizont verlaufenden dünnen Uferlinie. Nach ein paar Minuten entdeckte sie ein blitzendes blaues Licht auf den Wellen. Sie nahm das Marineglas aus der Halterung und stellte es scharf.
    »Ein Schiff der Küstenwache hält auf uns zu«, sagte sie schließlich und zeigte mit ausgestrecktem Arm in seine Richtung. »Bekommen wir Besuch?«
    Lele stellte das Ruder fest und ließ sich das Glas reichen. »Uns gilt das nicht, sei ganz beruhigt. So wie die rasen, haben sie entweder einen Rettungseinsatz vor sich oder einen dicken Fisch an der Angel«, sagte er. »Du ahnst ja nicht, wie viele unerfahrene Freizeitkapitäne jedes Mal gerettet werden müssen, wenn das Wetter wechselt. Die meisten überschätzen sich gewaltig.«
    Lele startete den Diesel und drückte den Knopf der automatischen Winsch, und mit jedem Zentimeter, mit dem siedie rostroten Segel einholte, richtete sich die »Greta Garbo« auf. Sie nahm Fahrt auf, und ihr Bug tauchte beizeiten tief in die Wellen, deren Gischt übers Deck stob. Vittoria hing schon wieder über der Bordkante.
    Das Patrouillenboot näherte sich rasch und hielt konstant Kurs auf den Zweimaster. Das Blaulicht flackerte kontinuierlich, die weiße Heckwelle zeichnete einen leichten Bogen. Jetzt erkannte Lele, dass er sich geirrt hatte. Diese Leute waren doch hoffentlich nicht der Meinung, er befände sich in Seenot. War etwas vorgefallen? Nun, er würde ihnen schon den Marsch blasen, wenn sie ihn aufzuhalten versuchten.
    Zehn Minuten später drehte die Einheit auf einen nahen Parallelkurs und hatte schnell aufgeholt. Mit einem saloppen Handzeichen erwiderte Raccaro den Gruß des Offiziers, der an Bord stand, dann zum Führerstand ging und das Mikrofon zur Hand nahm.
    »›Greta Garbo‹, können Sie mich verstehen?«
    Lele nickte und hielt den Daumen nach oben.
    »Wir haben den Befehl, Sie zum Hafen von Ravenna zu geleiten. Wechseln Sie auf Kurs 227 Grad Südwest, geben Sie folgende Koordinaten ein: 44°30'0'' Nord, 12°17'0'' Ost. Wenn Sie verstanden haben, betätigen Sie das Signalhorn. Ich wiederhole …«
    Was zum Teufel fiel denen ein? Lele sträubte sich, und Vittoria hatte ihre Seekrankheit für einen Moment vergessen. Das Patrouillenboot näherte sich ein Stück an, und die Ansage wurde wiederholt. Widerwillig betätigte er das Signal und legte das Ruder um, nachdem er die neuen Koordinaten in den Bordcomputer eingegeben hatte. Und außerdem drosselte er die Maschine, nachdem er das Steuer auf Autopilot gestellt hatte. Dann verschwand er unter Deck und überprüfte sein Mobiltelefon auf Empfang. Er wählte die Nummer seines Mailänder Anwalts, das Gespräch war nur von kurzer Dauer. Bevor er etwa in einer Stunde Ravenna anlaufenwürde, wollte Lele wissen, wer ihm da das Leben schwermachte. So einfach ginge das nicht.
     
    *
     
    Die beiden massiven Betontürme des Ospedale Cattinara auf dem Hügel über der Stadt hatten einem französischen Fotografen im Jahr 1986 eine Menge Geld eingebracht, als er seine Aufnahmen davon den internationalen Presseagenturen als erstes exklusives Foto des havarierten Atomreaktors von Tschernobyl verkaufte, weil echte Bilder aus der damaligen Sowjetunion natürlich nicht zu kriegen waren. Auf dem Hügel, auf dem das moderne Klinikum errichtet worden war, sollte einer mittelalterlichen Schrift zufolge bereits 1389 ein Hospital gestanden haben.
    Candace war heilfroh, dass die beiden freundlichen Uniformierten sie durch das Wirrwarr der Gänge im Eingangsbereich führten und mit dem Aufzug in den zwölften Stock des Klinikums brachten. Mit jedem Meter, den Candace sich ihrer Mutter näherte, wurde sie nervöser. Sie konnte es kaum erwarten, dass der Wachposten den Weg in das Zimmer freigab. Endlich öffnete sie leise die Tür. Die Jalousien waren herabgelassen, und ihre Augen mussten sich erst an das diffuse Licht gewöhnen. Candace verharrte einen Augenblick am Fußende des Krankenbetts.
    Miriam hatte starke Schwellungen im Gesicht, ihr Hals war verbunden, eine transparente Kanüle ragte aus dem Verband. Von einem Infusionsbeutel führte ein Plastikschlauch zu ihrem Arm, neben ihrem Bett stand elektrisches Gerät, ein Monitor zeigte ihren Herzschlag an, der andere Apparat verzeichnete den Atem.
    Leise trat Candace näher, Miriam öffnete sofort die Augen, als sie ihre Schritte hörte. Sie blickte ihre Tochter an, dann schloss sie sie wieder.
    »Ich bin’s, Mummy«, flüsterte Candace. »Was haben

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