Keine Frage des Geschmacks
geöffnet worden war, die über den Zugang zu den Dossiers entschieden hätte. So wie man unzählige Seiten der Tagebücher des Diego de Henriquez, des unermüdlichen Chronisten Triests, der 1974 grausam verbrannte, mit dem Hinweis auf eine nicht näher spezifizierte Privatsphäre noch lebender Personen dem Zugang der Forscher und der Bürger entzogen hatte. Seine peniblen Aufzeichnungen waren von den ehemaligenKollaborateuren der Nazibesatzung genauso gefürchtet wie von neofaschistischen Politikern, die sich heute einen demokratischen Anstrich gaben.
Lele Raccaro hatte oft genug gepredigt, dass die Geschichtsschreibung ein heikles Feld sei. Nicht viele vertrügen die ungeschminkten Tatsachen, und man lebte schließlich nicht schlecht in der stabilisierten Halbwahrheit. Warum also sollte man das Machtgefüge stören, das sich über Jahrzehnte hinweg auf Lügen stützte und derzeit seinen absurden Höhepunkt feierte. Die Demokratie hatte sich gewandelt, zu viel Pressefreiheit sei schädlich, hatte der Premier erst vor ein paar Tagen verlauten lassen. Aus Bürgern war Publikum geworden, dessen Anteilnahme sich in Einschaltquoten ausdrückte. Mit einer Flut inhaltsloser Notizen ließ sich Programm machen. Die Meldung hatte die Nachricht verdrängt, und Presseverlautbarungen von Firmen, Parteien und Institutionen waren an die Stelle von recherchierten Hintergrundberichten getreten. Die Show und hektisch wechselnde Bilder ersetzten die Politik, und der beste Showmaster wurde Regierungschef, Parteivorsitzender oder Bürgermeister. In Europa waren die Unantastbaren am Werk, und Lele gehörte dazu.
»Wie bin ich wohl an dieses Gemälde gekommen? Gestohlen etwa?«, schnauzte Raccaro und schleuderte eine Handbewegung auf das einzige Gemälde im Salon, das einsam und verloren an der Wand nach Norden hing. Es maß sechzig auf fünfundfünfzig Zentimeter und trug den Titel »Les bouches du Timavo«. Es war der Mündung des mythischen unterirdischen Flusses Timavo in die Adria gewidmet, die in der Antike als einer der Eingänge in den Hades galt und wohin die Bernsteinstraße aus dem Baltikum führte. Mysteriös war nur, dass in keiner Biografie des französischen Malers Gustave Courbet ein Verweis auf die Reise an den Golf von Triest zu entnehmen und das Werk in keinem Verzeichnis aufzufindenwar. Niemand wusste, wann der Künstler des Realismus dieses Bild gemalt hatte.
»Gekauft hast du es jedenfalls nicht«, sagte Aurelio bockig.
»Es sollte versteigert werden. Wäre ich so stur wie du, dann hätte ich es den Leuten vom Auktionshaus kaum vorher wegschnappen können. Wendig wie Proteus muss man sein, wenn man es zu etwas bringen will! Schau dir das Bild genau an, es ist eine Kostbarkeit! Die Vorstudie zum 1866 gemalten ›Origine du monde‹. Jener ›Ursprung der Welt‹ der heute streng bewacht im Musée d’Orsay in Paris hängt und immer wieder für Aufsehen sorgte, bis hin zur Zensur.«
Eine hocherotische Landschaftsdarstellung, die mehr an eine lüstern der Sonne zugewandte Vulva erinnerte als an eine Flussmündung. Aurelio zuckte gleichgültig die Achseln, es war nicht das erste Mal, dass Lele mit dieser Geschichte prahlte. Mit Malerei konnte der Alte sonst nichts anfangen, und vermutlich scherte er sich nicht im geringsten um den künstlerischen Wert des Werkes. Nur eine alte Schwarz-Weiß-Fotografie hielt er wirklich in Ehren. Sie hing neben der Tür und zeigte seinen Vater, den er nie kennengelernt hatte, als Soldat in den Kolonien. Er stützte sich mit einer Hand auf einen Tisch, in dessen Mitte groß das Savoyer-Wappen prangte, und parlierte im Beisein einiger Offiziere mit seinem nobel gekleideten, hochgewachsenen Vorgesetzten.
»Das ist Kunst, das ist Erotik, Junge. Du musst noch viel lernen.«
»Wenn ich nicht nur die Drecksarbeit für dich erledigen müsste, hätte ich eine Chance. Verschaff mir auch einmal einen dieser Jobs in der Politik, wo man, ohne einen Finger zu rühren, abkassiert.«
»Merke dir eines!« Leles Stimme hatte plötzlich die Schärfe einer Kettensäge, obwohl sein Blick fest auf den Fernsehschirm geheftet war. »Alle großen Skandale beginnen mit Kleinigkeiten. Riskiere nicht, mir in die Quere zu kommen.«
Schäferhund Rex sprang soeben durch ein brennendes Fenster, brachte kurz darauf den bösen Mann im Kleiderschrankformat trotz dessen Pistole zu Fall und hielt ihn mit einer Pfote auf dessen Brust in Schach, unter deren Gewicht der Täter ächzte, bis endlich auch der Kommissar
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