Keine Frage des Geschmacks
wie es der ›Independent‹ für möglich hält?«
»Wenn Sie einen politischen Hintergrund vermuten, Dottoressa, sind die Kollegen von der Digos zuständig.«
Sie überging seinen Einwand kommentarlos.
Täglich las man von mutigen Bürgern, die unter Druck gesetzt wurden, weil sie dazu aufforderten, die Autoritäten zu hinterfragen. Ebenso erging es missliebigen Journalisten, Rechtsanwälten, Polizisten, Staatsanwälten und Richtern. Und natürlich auch aufrechten Politikern, die sich nicht in den Filz verstricken lassen wollten. Ein paar von denen gab es noch, und um die loszuwerden, brauchte es nicht unbedingt einen Killer. Die Psyche eines Menschen brach meist früher ein, als er ahnte.
Den Psychoterror beherrschten die Profis. Ihre Phantasiekannte dabei keine Grenzen. Zeitraubend und lästig konnte für den Betroffenen schon eine gut durchdachte Anzeige beim Finanzamt sein, so wie dies verlassene Ehefrauen taten oder Sekretärinnen, die als Geliebte ausgedient hatten. Auf konkrete Drohungen musste man nicht unbedingt zurückgreifen, schleichend Druck zu machen, lohnte meist mehr. Manchmal genügte es schon, einen Mann im Kleiderschrankformat vor der Haustür des Opfers abzustellen, der nichts Weiteres zu tun hatte, als freundlich zu grüßen und zu wiederholen, wie schön doch das von Gott gegebene Leben sei, solange man selbst und natürlich die Menschen, die einem nahestehen, bei guter Gesundheit sind und es genießen können.
Eine ausgeklügelte Geheimdiensttaktik funktionierte, seit es den Postweg gab, und wurde bei Prominenten eingesetzt: die schriftliche Diffamierung hinter dem Rücken des Opfers. Gut erfundene Geschichten über Tabuverletzungen waren von hohem Tratschpotenzial und machten schnell die Runde: Kinderschänderei, Inzest, Ehebruch mit Transsexuellen, Sodomie, Kokainsucht. Homosexualität, Betrug und Ehebruch, Mord und Unterschlagung aber taugten als Verleumdung schon lange nicht mehr. Das alles gehörte fast zum guten Ton.
Die Spezialisten kannten die Wirkung aus jahrzehntelanger Erfahrung und setzten sie strategisch um. Das Opfer musste nicht körperlich bedroht werden, es reichte, wenn es von der Bildfläche verschwand, für immer schwieg oder selbst Hand an sich legte, weil es den Spannungen nicht mehr gewachsen war. Und selbst die Polizei war in solchen Fällen oft machtlos, denn nur die Drahtzieher kannten das Ausmaß und den nächsten Schritt ihres Plans. Sie antizipierten die Bewegungen ihres Objekts und der Kriminalisten, die sich nur mühsam einen Überblick über die Lage verschaffen konnten. Bis dahin war der Ruf längst zerstört.
Den unsichtbaren Verfolger setzte man zur Zermürbungeines Zielobjekts ein, wenn man noch zu wenig von ihm wusste. Auch jene Gestalten, die plötzlich aus dem Nichts auftauchten und genau dorthin wieder verschwanden, sobald sie genügend Schaden angerichtet hatten, gehörten zum Personal der Hintermänner. Angst war ein lebenseinschneidendes Instrument und trieb die Opfer bisweilen in den Tod.
»Auf den ersten Blick ist alles glaubhaft«, fuhr die Staatsanwältin fort. »Doch ich habe einen flüchtigen Blick in das Vorstrafenregister dieses Giulio Gazza geworfen. Sie hatten schon mit ihm zu tun. Vor acht Jahren. Für besonders helle halte ich den Typ nicht. Schwer vorstellbar, dass er das allein gedreht hat.«
»Und ausgerechnet mir wollen Sie diese Sache aufs Auge drücken, Dottoressa? Ich bin kaum der Richtige dafür.« Sein Auflehnungsversuch war vergebens.
»Wer sagt, dass diese Politikerin wirklich ein solches Unschuldslamm ist? Immerhin sitzt sie bereits in der zweiten Legislaturperiode im Unterhaus. Gehen Sie zielstrebig vor, Laurenti, und denken Sie stets daran, dass diplomatische Verwicklungen mit den Engländern das letzte sind, was wir brauchen. Die dortige Presse haut unser Land derzeit jeden Tag in die Pfanne. Halten Sie mich permanent auf dem Laufenden.«
Zu ihrem vierzigsten Geburtstag, vor einem halben Jahr, war die Staatsanwältin umgezogen, zu dem Mann, mit dem sie seit elf Jahren liiert war, dem Inhaber eines Laborbetriebs zur Entkoffeinierung von Kaffeebohnen. Iva Volpini stammte aus Rimini und hatte in Rom promoviert. Sie stand in dem Ruf, sehr penibel zu sein und Fehler, die aus Nachlässigkeit geschahen, nicht verzeihen zu können. Sie war von mittlerer Statur und hatte sehr angenehme, sanfte Zügen, weshalb sie von ihrer Klientel häufig unterschätzt wurde. Dicke Fische, die vor Überheblichkeit platzten, fielen
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