Keine Frage des Geschmacks
häufig darauf herein und verplapperten sich schnell. Iva Volpini hinkte leicht, wasaber nur aufmerksamen Beobachtern auffiel. Einer ihrer Kollegen behauptete, dass sie in Caserta bei einer groß angelegten Aktion gegen einen Clan der Camorra einen Hüftschuss abbekommen habe. Ihr Vorgänger, mit dem Laurenti einige heikle Fälle von grenzüberschreitender Organisierter Kriminalität lösen konnte, hatte aus seiner Drohung, in den ruhigen Job eines Familienrichters zu wechseln, schließlich Ernst gemacht. Als wäre der einfacher.
»Und die Wasserleiche, Laurenti?«, fragte die Staatsanwältin noch.
»Wir machen Fortschritte. Kleine Fortschritte.«
*
Die Akten lagen quer über Laurentis Schreibtisch verstreut, er hielt einen Stapel Papier in Händen und blätterte ihn Seite um Seite durch. Marietta hatte ihm das Material nach der dritten Aufforderung hereingebracht. Sie hatte alles, was über Giulio Gazza und Raffaele Raccaro im Archiv des Polizeipräsidiums aufzutreiben war, so penibel zusammengetragen, als wollte sie ihrem Chef das Leben erschweren. Von den Unterlagen der Passabteilung, jede Fahrzeuganmeldung, seit er den Führerschein hatte, alle Umzugsmeldungen, Strafzettel – nichts fehlte. Die Anzeigen, die Raccaro in seinem Leben erstattet hatte, seine Zeugenaussagen in anderen Fällen. Alles war dabei. Vor zwei Jahren, mit siebzig, war Lele für seine besonderen Verdienste vom Staatspräsidenten zum »Cavaliere del lavoro« ernannt worden und hatte damit den gleichen Rang wie der Regierungschef. Es hieß, er habe sich sein halbes Leben lang darum bemüht und keine Gelegenheit ausgelassen, seine Verbindungen dafür spielen zu lassen.
Laurentis jahrzehntelange Erfahrung hatte ihn gelehrt, Protokolle und Aussagen mehrfach zu lesen, so langweilig sie auch waren. Er versuchte, in ihnen Ungereimtheiten, Lückenund Widersprüche zu finden, die anderen entgangen waren. Polizeiarbeit war kein Fernsehkrimi, sie bestand zum Großteil aus Administration, Archivsuche, Befragungen und Verhören, langwierigem Materialsammeln, Filtern konfuser Aussagen, Daten- und Fallabgleichungen, Notizen und sehr, sehr viel Papier, das durch die notwendigen bürokratischen Regeln verursacht wurde, die im delikaten Bereich der öffentlichen Sicherheit die demokratische Grundordnung garantieren sollten. Logik, Fakten, Beweise, keine Phantastereien. Gewaltenteilung, keine Alleingänge. Gegenseitige Kontrolle: Questore, Staatsanwalt, Ermittlungsrichter – und natürlich die Kollegen aus den technischen Spezialabteilungen und den übrigen Sektoren des komplexen Gebildes, das für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen oder die öffentliche Ordnung wiederherzustellen hatte. Innerhalb dieser Schranken allerdings konnte man dann tun, was man wollte – und sie manchmal auch durchbrechen, so dies im verborgenen geschah. Solange davon weder Rechtsanwälte noch Journalisten Wind bekamen. Polizeiarbeit hieß Klappehalten – auch zu Hause. Laurenti war der Ansicht, dass die TV-Ermittler, dem Beruf viel zu viel Ehre machten. Im Alltag gab es keine Helden wie sie, die den Staub der Akten nicht schlucken mussten und so zielstrebig wie Exorzisten das Böse besiegten.
Alle Verfahren, die in der Vergangenheit gegen Raccaro liefen, waren entweder verjährt oder eingestellt worden, oder er wurde freigesprochen. Einige dieser Fälle waren sogar Laurenti neu, die Medien hatten sie unterschlagen. Es handelte sich um Klagen in Wettbewerbsfragen, um feindliche Übernahmen, Devisenvergehen, betrügerischen Bankrott und Geldwäsche. Lele wurde von einer großen Mailänder Kanzlei vertreten, deren Inhaber Senator in Rom war. In kleineren Fällen kamen Triestiner Anwälte zum Zug. Er müsste äußerst klug vorgehen, wenn er Leles Verbindungen nach Kalabrien durchleuchten wollte. Gazza hingegen war völlig durchsichtigund ritt sich meist selbst in die Malaise. Ein unbeherrschter Trottel, der den Knast nicht nur von außen kannte.
In drei verbeulten Stahlregalen hinter seinem Schreibtisch stapelten sich weitere Akten. Immerhin war es Laurenti gelungen, zwei Wände seines Büros freizuhalten, an denen nicht, wie in den übrigen Kommissariaten, die Urlaubsgrüße der Kollegen hingen. Oder etwa Plakate mit den Schlagzeilen des »Il Piccolo«, welche am Kiosk die Auflage der wichtigsten lokalen Tageszeitung ankurbeln sollten, was mit Verbrechen natürlich am besten gelang. Er vergaß zwar keinen seiner Fälle, doch Heldentum lag ihm nicht. Ihn interessierte
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