Keine Frage des Geschmacks
nur der aktuelle Vorgang – und ob die Tür zu Mariettas Büro gut geschlossen war, damit sie nicht alle seine Gespräche mithörte. Außerdem war ihm wichtig, dass der reservierte Parkplatz vor dem Haupteingang frei war, wenn er kam, und dass er den Weg von seinem Büro zu dem der Chefin, fünf Türen weiter auf dem gleichen Flur, so selten wie möglich zu gehen hatte.
Die neue Polizeipräsidentin hatte ihren Dienst Ende November angetreten. Sie war eine der wenigen Frauen im Land, die diese Position bekleideten, und sie hatte von Anfang an klargemacht, dass sie mehr Disziplin und bessere Ergebnisse forderte als ihre männlichen Vorgänger. Der Ruf, der ihr vorauseilte, war der einer blendenden Ermittlerin, die in ihrer Laufbahn einige berühmte Fälle gelöst hatte. Äußerlich glich Marisa Quagliarello ein bisschen der deutschen Bundeskanzlerin, und Laurenti dachte an das Sprichwort von den neuen Besen – allerdings zeigte sie bei der Wahl ihrer Kleidung den besseren Geschmack. Und hinter ihrem Schreibtisch war neben der Europafahne natürlich die Trikolore aufgepflanzt und das Banner der Stadt Triest mit der weißen Hellebarde auf rotem Grund.
An den Wänden von Laurentis Büros hingen zwar die obligaten Urkunden, mit denen er im Laufe seiner Dienstzeitfür besondere Leistungen belobigt worden war – Gott sei Dank gab es keine für Verweise und Tadel –, aber über dem Besprechungstisch aus dem Inventar der Behörde und den vier Stühlen mit den türkisfarbenen Polstern aus Polyacryl war Platz geblieben für ein riesiges hintergrundbeleuchtetes Foto von David Byrne mit dem Titel »Winners are Losers with a New Attitude«. Das Werk, das vom Autor niemals freigegeben wurde, hatte Laurenti für wenig Geld in einem der zahlreichen Läden mit den roten Lampions am Eingang gekauft: Eine von zwei Dollarnoten beflügelte Pistole schwebte idyllisch über einem leicht bewölkten Himmel. Das Original hätte er sich nicht leisten können. Zum Glück gab es die Chinesen, die auch die Rubelnoten durch eine solidere Währung ersetzt hatten. Die Polizeipräsidentin hatte das Bild bei ihrem ersten Rundgang durch das Gebäude zweifelnd betrachtet.
Vom gleichen Schlag
Der rechte Haken streckte Aurelio nieder, als er die Tür zu seinem Appartement gerade halb geöffnet und noch nicht einmal erkannt hatte, wer draußen stand. Mit der vollen Wucht seines massigen Körpers stieß Giulio Gazza sie ganz auf und versuchte sogleich nachzusetzen, doch Aurelio brachte ihn mit einem blitzschnellen Fußtritt gegen die Kniescheibe zu Fall und drehte ihm sogleich den Arm auf den Rücken, was Gazza ein tiefes Grunzen entrang.
»Mieses Dreckschwein!«, brüllte Aurelio. »Steh auf, du Wildsau!«
Er verdrehte den Arm des Dicken noch stärker und zwang ihn auf die Beine. Dann stieß er ihn in den Fitnessraum gleich nebenan. Mit einem dumpfen Knall landete Giulio Gazza so hart auf dem Sitz der Kraftstation, dass er vor Schmerz jaulte. Die Fesseln an seinen Handgelenken bemerkte er erst, als es zu spät war.
»So also begrüßt du mich!«, schrie Aurelio und riss ihm das verschwitzte Hemd vom Leib. »Wäschst du dich eigentlich nie, Qualle? Ich fürchte, ich muss hier nachher alles desinfizieren.«
Gazza spuckte ihm ins Gesicht. »Dann fang bei dir an, Zecke.«
Wutentbrannt versetzte Aurelio ihm zwei schallende Ohrfeigen. »Darauf habe ich viel zu lange gewartet. Fünfzehn Jahre lang hast du mich getriezt und mir alle deine Schweinereien in die Schuhe geschoben. Ganz abgesehen von deiner ständigen Wichserei vor meinen Augen. Und ich musste dich auch noch Bruder nennen. Du hast keine Ahnung, welche Befreiung das Internat für mich war. Du widerst mich an.«
Und dann hielt er plötzlich ein Feuerzeug in der linken Hand, sein Blick war starr, als er es anzündete.
Nachdem die schwarze Journalistin abgezogen war, hatte Giulio Gazza den Artikel des »Independent« und das Schreiben der englischen Anwaltskanzlei gelesen und schließlich eingehend die Kopie der Versandtasche des Kurierdienstes studiert. Kein Zweifel, es war Aurelios Handschrift. Der Dreckskerl hatte seine Adresse benutzt. Und er hatte ihn auch noch geschützt und seine Daten nicht preisgegeben. In der britischen Tageszeitung stand nun sein Name, und wenn es stimmte, dass der »Piccolo« und der »Messaggero Veneto« ebenfalls das Material zugespielt bekamen, dann steckte Gazza bis zum Hals in der Scheiße. Er bebte am ganzen Leib. Dafür sollte Aurelio büßen. Wütend
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