Keine Frage des Geschmacks
die Fotos gezeigt zu haben, wusste er, wie er sein Fell retten konnte. Sollte doch Gazza für ihn büßen. Was hatte er schon anderes getan, als eine Touristin flachzulegenund dabei belauert zu werden? Nur Lele musste er ab jetzt heraushalten.
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Von der »Angel Travel Agency« aus war Miriam den Schildern gefolgt, die die freien Parkhäuser anzeigten. Sie parkte in einer Tiefgarage und ging zu Fuß durch die Innenstadt. Udine war ein reizendes Städtchen voller schmucker Geschäfte. Im Schatten der Arkaden schlenderte sie über die Piazza, auf der Marktbetrieb herrschte und die von alten, eng aneinandergebauten Häusern eingesäumt war. Die Jahrhunderte hatten ihre Mauern aus dem Lot geholt, und die Fassaden muteten an, als stützten sie sich gegenseitig. Schließlich betrat sie ein rustikales Lokal, von dessen krummen Deckenbalken unzählige Hüten und Mützen baumelten. Auf einer riesigen Schiefertafel prangte die mit Kreide angeschriebene, nicht enden wollende Weinkarte, auf einem Stuhl schlief eine graugetigerte Katze. Miriam ließ sich an einem Tisch nahe der mächtigen Säule nieder, die vermutlich erst lange nach der Erbauung des Hauses als Deckenstütze eingezogen worden war. Sie bestellte ein Glas Merlot von Doro Prinčič, und während sie einen Teller Pasta mit frischen Steinpilzen aß, blätterte sie in einem Reiseführer. Sie blieb an einer Passage über das Tal der Natisone hängen. Sollte sie dort hinfahren? Sollte sie in Militärarchiven nach ihrem Großvater forschen? Wen sollte sie suchen? Männer, die 1941 nicht nach Italien zurückgekehrt waren? Ein paar hundert, wenn nicht tausende Italiener waren in Äthiopien geblieben, wer konnte denn wissen, ob sie vom Regime nicht einfach auf die Liste der Gefallenen gesetzt worden waren. Der einzige Anhaltspunkt war sein Vorname: Paolo – alles andere als selten. Und die Großmutter nannte ihn manchmal Pavel. Nein, das führte nicht weiter.
Zu ihrem Termin in Triest kam sie mit einer halben Stunde Verspätung. Sie hattte sich auf den engen gewundenen Sträßchen verfahren, und der Ursprung des Flüsschens Natisone war ihr verborgen geblieben, genauso wie die Herkunft ihres Familiennamens.
Von Udine war sie über die Landstraße nach Cividale gefahren, hatte dort von der mittelalterlichen Teufelsbrücke auf die Natisone hinabgeblickt, deren tiefgrünes Wasser in einem romantisch sich dahinwindenden Flussbett das schmucke Städtchen durchfloss, und war dann dem Flusslauf in ein Tal gefolgt, um welches herum sich bewaldete Berghänge erhoben. An manchen Stellen badeten Kinder. Nachdem sie die Grenze nach Slowenien überquert hatte, führte ein verschlungenes, holpriges Sträßchen so steil bergauf, dass sie fürchtete, den Leihwagen zu Schrott zu fahren, und umdrehte. In dem Reiseführer hatte gestanden, dass die Natisone aus dem Zusammenfluss des Rio Nero mit dem Rio Bianco auf der Grenze zwischen Italien und Slowenien entstand.
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»Dieser Schaum ist ein Cocktail aus etwa eintausendfünfhundert Stoffen. Davon sind etwa acht- bis neunhundert flüchtig, diese riechen wir. Deshalb ist die richtige Zubereitung des Espresso so wichtig, denn er konzentriert all diese Aromen.« Der Inhaber der berühmtesten Kaffeeproduktion der Stadt deutete auf die Reste in ihrer Tasse. »Ich trinke ihn grundsätzlich schwarz, um diesen Reichtum nicht zu zerstören.«
»Flüchtige Stoffe? Das hört sich an wie im Krimi«, scherzte Miriam.
»Ja, aber es läuft ganz anders ab. Je mehr Stoffe entweichen, desto besser wird der Espresso. In einem Krimi müssen alle dingfest gemacht werden, das wäre dann ein schlechter Kaffee.«
Die Führung durch die Labore und die Rösterei, für die sich der Inhaber selbst Zeit genommen hatte, dauerte fast zwei Stunden. Er war ein Mann in Miriams Alter mit kantigem Schädel, dessen Haar noch kürzer geschnitten war als ihres und der sie in perfektem Englisch begrüßte und ihr ausführlich die Philosophie und die Firmengeschichte des Unternehmens darlegte. Sein Großvater hatte die Firma gegründet, ein Einwanderer wie viele andere auch, die hier in dieser Branche tätig waren.
»Schon 1933 hat er die erste Espressomaschine patentieren lassen, die mit Wasserdruck arbeitete«, erzählte der Kaffeeröster. »Die ideale Wassertemperatur beträgt neunzig Grad. Dampfdruck ist logischerweise heißer und verbrennt den Kaffee. Und schon damals hat mein Großvater die Röstungen in aromaverschlossene Behälter abgefüllt und damit
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