Keine Frage des Geschmacks
mit dem Taschentuch über die Stirn. »Sonst hätte ich Sie wohl kaum aufgesucht.«
»Und sich auch noch gewaschen und umgezogen. Ein echter Festtag heute, ich verstehe. Dafür aber verraten Sie Ihren wichtigsten Kunden.«
»Er muss es doch nicht unbedingt wissen«, winselte Gazza und machte Augen wie der Bassett Hound in Shakespeares »Sommernachtstraum«, dessen Blick dem Herrchen am frühen Morgen zu versprechen schien, jegliche Tagesmüh für immer von ihm fernzuhalten. Nur seine Ohren waren kürzer.
Miriam biss sich auf die Lippen, um nicht laut loszulachen.
»Auf jeden Fall ist Lele Raccaro ein außerordentlich einflussreicher Mann«, fuhr der Dicke plötzlich mit kalter Stimme fort. »Er kann alle Ihre Probleme lösen.«
Plötzlich wurde sie wütend. »Ich habe keine Probleme. Sie haben welche, Mister Gazza. Und um sie zu lösen, würden Sie sogar Ihre Mutter verkaufen.«
»Raccaro hingegen könnte Ihnen aber auch welche bereiten, von denen Sie bisher nicht die geringste Ahnung hatten.« Fies lächelnd schaute Gazza an ihr vorbei.
Das war also der Grund, weshalb der Dicke sie aufgesucht hatte! Er war nicht von allein vorstellig geworden, jemand hatte ihn vorgeschickt. Ein verlogenes Spiel, ihre Drohungen ließen ihn kalt. Miriams Hand lag auf der Mähne des steinernen Löwen am Fuße der Afrika auf dem Brunnen. Ihr Blick war schlagartig finster geworden. Gazza traute sie alles zu, und seine falsche Unterwürfigkeit war ihr zuwider.
»Richten Sie Ihrem Herrn aus, er möge auf der Hut sein, und Ihnen rate ich, sich warm anzuziehen. Es wird sehr ungemütlich werden, darauf können Sie sich verlassen«, zischte Miriam, stieg die beiden Stufen hinunter und ging davon, ohne sich noch einmal umzuwenden.
*
Warum hatte er das nicht schon viel früher getan? Aurelio wartete an einem der Tische vor der Bar Audace auf der Piazza Unità darauf, dass Giulio mit der Journalistin auftauchte. Er nippte an seinem Caffè shakerato, dem geeisten Espresso, und lachte sich ins Fäustchen.
Als der Dicke schließlich gedemütigt abgezogen war, nachdem er ihm die längst fällige Lektion verpasst hatte, gab er ein jämmerliches Bild ab. Die Haut auf der Brust war gerötet, das zerfetzte Hemd hing wie ein Putzlappen von seiner Schulter – und in seinen Augen stand verzweifelte Leere. Wie viele lange Jahre war die Situation genau umgekehrt gewesen, wie lange hatte der Fettsack ihn getriezt, als er noch klein und wehrlos war? Aurelio beschloss, dieser Lektion noch andere folgen zu lassen. Die Zeit, in der er seinen Hass in sich hineingefressen hatte, war vorbei.
Auf der Piazza herrschte Hochbetrieb, wer noch nicht in den Urlaub gefahren war, verließ zu dieser Uhrzeit das klimatisierte Büro, plauderte mit Bekannten bei einem Drink oder eilte ans Meer, um die restlichen Sonnenstunden des Tagesmit einem Bad in der Adria zu verbringen. Aurelio schaute den vielen hübschen Frauen nach, die im Sommer anzusehen ein noch größeres Vergnügen war. Und er dachte an die Engländerin, die ihm in Grado eine Freude nach der anderen bereitet hatte. Solche hochgeschlossenen Ladys, die zu Hause sicherlich vor Unnahbarkeit strotzten, waren köstlich, wenn sie sich im Urlaub, weitab von allem, gehenließen und ihre weiße Haut zeigten. Aurelio hatte es seit langem raus. Er musste nicht weit fahren, um sie aufzureißen. Grado, das Seebad mit seinen Sandstränden, bot alles, was er wollte. Nach den Deutschen und Österreicherinnen war Jeanette die erste Engländerin auf seiner Liste. Die nackten Tatsachen veränderten sich dadurch nicht.
Die Regie hatte von Anfang an Jeanette übernommen, sie hatte es eilig gehabt und war in ihrem Leben ganz offensichtlich daran gewöhnt, den Ton anzugeben. Gott sei Dank hatte sie nie darauf bestanden, die ganze Nacht mit ihm zu verbringen. Sobald er sie nach dem Abendessen in den Schlaf gewiegt hatte, konnte Aurelio losziehen und sich mit Freunden treffen, die wie er mit ihren Abschussquoten angaben. Dass Jeanette ihm schließlich auch noch Geld gegeben, oder, wie sie es nannte, bis zum nächsten Mal geliehen hatte, das überraschte selbst Aurelio. Alles Weitere hatte dann auf der Hand gelegen und sein Plan längst festgestanden, als er sie am Flughafen mit vorgespielter Leidenschaft verabschiedete. Die Aufnahmen hatte ein Kellner gemacht, dem er die Kamera zusammen mit einem Fünfziger in die Hand gedrückt hatte, nachdem er das Blitzlicht blockiert hatte. Der Idiot hatte seine wahre Freude dabei
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