Keine Frage des Geschmacks
aus. Sie machte eine Unmenge Notizen und hätte einem der englischen Agententhriller entspringen können, die er für sein Leben gerne sah. So überraschend sie verschwand, so überraschend tauchte sie wieder auf. Lele sollte sie für seine Casting-Agentur verpflichten.
Am Canal Grande hatte er die Journalistin zufällig aus dem Wagen von Nicola Zadar, dem Rohkaffee-Importeur, steigen sehen, dessen Geschäftsräume er gut kannte. Seither ging er in einigem Abstand hinter ihr her. Die große Hitze schien ihr nicht das geringste Problem zu bereiten, während sein Mund vor Trockenheit klebte.
Immer wieder warf sie einen Blick in ihr Moleskine-Notizbuch und betrat dann ein Café nach dem anderen, wo sie mit den Wirten redete und ein paar Fotos schoss. Das Piazza Grande im Erdgeschoss des Rathauses, das einst von ItaloSvevo und Umberto Saba besucht wurde, bis es durch den Einbau eines Aufzugs auf seine heutige Größe reduziert wurde; dann das Urbanis mit dem alten Fußbodenmosaik, ein paar Schritte weiter La Nuova Portizza, wo es wie immer turbulent herging und Aurelio auch ein paar Schnüffler von der nahen Questura ausmachte, weshalb er sich rasch verdrückte. Anschließend hinüber zum Torinese, wo gedankenversunken und allein der Commissario am Tresen stand, den Lele vor gerade zwei Tagen am Telefon abserviert hatte. Von dort steuerte die Schleichkatze Richtung Rive und betrat das älteste Lokal der Stadt, das Caffè Tommaseo mit dem prunkvollen Stuck an Wänden und Decken und den putzigen Möbeln. Im Winter 1830 hatte Stendhal es zu seinem Stammlokal gemacht – und die These vertreten, eher die Frauen zu wechseln als das Kaffeehaus. Im Tommaseo fand eine politische Versammlung statt: Die organisierte Linke Triests hatte sich auf einen jämmerlichen Kleinkreis reduziert und schien trotzdem mit sich zufrieden.
Aurelio behielt beide Ausgänge im Blick und folgte Miriam Natisone schließlich zum Stella Polare, in dem 1909 der eifersüchtige James Joyce einen Journalisten abgewatscht hatte, weil der seiner Nora unverhohlen Komplimente gemacht hatte, was jene dem jungen Schriftsteller wiederum brühwarm unter die Nase hielt, um sich für seine Eskapaden mit den Triestiner Dirnen zu rächen.
Doch so langsam verging Aurelio der Spaß. Wenn er wenigstens mit dem Scooter fahren könnte! Durstig dackelte Aurelio hinter Miriam durch die Fußgängerzone und wartete draußen, während sie stets etwas zu trinken bekam. Sie zog weiter in die Bar delle Torri hinter der Kirche Sant’Antonio Taumaturgo und plauderte lange mit dem Wirt.
Aurelio wunderte sich, dass Miriam, als sie wieder auf die Straße trat, zielstrebig auf den Straßenverkäufer zusteuerte und sehr vertraut mit ihm tat. Woher kannte sie den Kerl?Was hatte sie mit ihm zu tun? Sie verschwanden in einem Fotogeschäft. Vergeblich versuchte er, sie durch das Schaufenster zu beobachten. Als sie wieder herauskamen, trug der Schwarze eine Plastiktüte in seiner Linken, die er umständlich in seinen schweren Matchsack stopfte. Sie verabschiedeten sich, und Miriam suchte die Gran Malabar auf, wo sie sich am Tresen mit dem Wirt unterhielt, der ihr die unterschiedlichsten Kaffees zubereitete.
Den nächsten Anlaufpunkt hatte Aurelio ohne Mühe erahnt: das Caffè San Marco in der Via Battisti. Miriam trat in den prachtvollen Raum. Neben der Tür stand auf einer Staffelei das Porträt eines älteren Mannes, der selbst an einem reservierten Tisch im Fond des Saales saß. Er blätterte in Papierstapeln, machte konzentriert Notizen und nahm ab und zu einen Schluck Bier. Wenn er den Blick hob, blickte er auf sein Konterfei in Öl, während sein Hinterkopf von dem großen Spiegel in seinem Rücken gedoppelt wurde.
Aurelio wartete lange darauf, dass sie wieder auf die Straße trat. Er wurde jetzt vorsichtiger, denn sie drehte sich oft unvermittelt um und blieb stehen, schaute in ein Schaufenster, wechselte plötzlich die Straßenseite oder ging einige Meter zurück. Am Corso Saba betrat sie das gleichnamige Café, bestellte, legte die Münzen auf den Tisch und verließ das Café schlagartig, machte drei Schritte auf dem Gehweg und trat wieder ein. Nur knapp entkam Aurelio ihrem Blick und wäre beinahe mit dem Straßenverkäufer zusammengeprallt, der sein Glück jetzt ebenfalls in diesem Viertel versuchte. All der Kaffee, den die Journalistin getrunken hatte, musste sie nervös gemacht haben, zugleich schien sie erschöpft. Nachdem sie das Pirona verlassen hatte, führte sie ihr
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