Keine Frage des Geschmacks
Weg durch die kleineren Nebenstraßen, wo sie eines nach dem anderen die schmucklosen Lokale betrat, in denen die Leute den heißen Espresso in drei Zügen leerten und zurück zur Arbeit eilten. Ihr Streifzug endete in der Cavana, wo sie die alte TorrefazioneLa Triestina aufsuchte, in der sich die Kunden seit jeher ihre persönliche Mischung zusammenstellen ließen.
Als Miriam endlich im Hotel verschwunden war, gönnte Aurelio sich an der nächsten Ecke einen Drink, dann eilte er zu seinem Scooter und fuhr zu Raccaro, um wie befohlen Bericht zu erstatten. Die Tür zu Leles Büro war angelehnt.
*
»Porcamiseria!«, schnauzte Lele den Dicken an, der ihm wie ein Häufchen Elend gegenübersaß, und schleuderte dem Kerl den erstbesten Aktenstapel ins Gesicht. »Mit Großzügigkeit versteht ihr beide nicht umzugehen, also werden ab jetzt andere Saiten aufgezogen. Deinem Bruder hab ich bereits auf die Sprünge geholfen, jetzt bist du dran. Heb das auf! Wird’s bald?«
Lele war hinter dem ausladenden Schreibtisch vor Wut aufgesprungen und gab ein lächerliches Bild ab. Alles in diesem Büro war überdimensioniert. Der mit schwarzem Leder gepolsterte Chefsessel hätte sogar Gazzas Wanst ausreichend Spielraum gelassen. Der Weg zu der barocken Sitzgruppe am gegenüberliegenden Ende des Büros war so lang, dass der Raum eher dem Befehlsstand eines Parteibonzen in Pjönjang oder Havanna glich als der Zentrale einer einflussreichen grauen Eminenz des 21. Jahrhunderts – die den Hals allerdings auch nie voll kriegte.
»Ich warte«, zischte Lele ungehalten.
Er ließ sich wieder in seinen Sessel fallen und trommelte ungeduldig mit einem teuren Füller auf die Tischplatte, während Gazza sich mühsam aus seinem Stuhl emporzog und auf alle viere begab, um schwer atmend die auf dem Boden verstreuten Papiere einzusammeln. Schließlich richtete er sich unbeholfen auf. Er schwitzte und verströmte einen säuerlichen Körpergeruch.
»Aurelio ist nicht mein Bruder«, versuchte er sich verzweifelt gegen den Angriff zu wehren. »Aber er hat mir die Suppe eingebrockt, die du mich auslöffeln lässt.«
»Du bist im Rückstand mit den Flugbuchungen für die Schauspieler, und den Ärger bekommt nun die AFI ab. Und wir müssen für die Mehrkosten geradestehen, nur weil du dämliche Briefe verschickst, die noch ganz andere Konsequenzen mit sich bringen. Was glaubst du wohl, weshalb ich dir das Reisebüro in Udine eingerichtet habe?«
»Weil du hier angeblich keinen Platz hast.« Gazzas Blick schweifte durch den riesigen Raum. »Und weil du noch einen Firmensitz im Friaul haben wolltest, damit du die Subventionen besser anzapfen kannst. Weshalb sonst? Ich muss jeden Tag hin- und zurückfahren. Glaubst du, das ist jetzt zur Hauptreisezeit ein Vergnügen? Und so groß ist der Rückstand nun auch wieder nicht.«
»Das behauptest du jedes Mal, Giulio. Ich erwarte, dass du bis morgen Abend alles aufgeholt hast, sonst mache ich deinen Laden zu. Das geht schneller, als du denkst.«
Gazza seufzte tief. Das war kaum zu schaffen. Er müsste heute noch mindestens bis Mitternacht arbeiten und morgen schon um fünf wieder aufstehen. Warum hatte er sich bloß nach dem Tod seiner Mutter von Lele überzeugen lassen, das kleine Barvermögen, das sie ihm hinterlassen hatte, in eine gemeinsame Firma zu stecken? Von wegen Großzügigkeit! Ihm war nur noch das Häuschen in der Via dell’Eremo geblieben und die paar Kröten, die er als Inhaber der »Angel Travel Agency« einstrich. So viel eben, wie Lele ihm zugestand, nachdem er den Gewinn abgeschöpft hatte. Er rührte sich nicht vom Fleck.
»Wenn ich mich nicht täusche, dann brennt dir der Arsch vor Arbeit. Du hast Zeit bis morgen Abend. Vergiss das nicht. Und schick mir deinen Bruder rein.«
»Er ist nicht mein Bruder«, antwortete Gazza trotzig.
»Mehr als du dir vorstellen kannst, ist er es. Und wenn du das nächste Mal hier aufkreuzt, dann wasch dich gefälligst.«
Giulio Gazza durchquerte das Vorzimmer, Aurelio begrüßte er mit ausgestrecktem Mittelfinger: »Du sollst da rein, Zecke. Unser lieber Vater erwartet dich.«
»Du hast weder Vater noch Mutter, Qualle, keine Eier und keinen Schwanz. Vergiss das nie!«, rief ihm Aurelio nach. »Und die Prügel neulich waren erst der Anfang.«
Sorbetto al limon
Raffaele Raccaro hatte sich charmant gegeben, als er sie durch die weitläufigen Büroräume des neoklassizistischen Palastes an der Piazza Oberdan führte und ihr voller Stolz den
Weitere Kostenlose Bücher