Keine Frage des Geschmacks
beeindruckenden Umfang seiner Sammlung an Kriegsfotografien vorstellte. Die schmallippige Archivleiterin erklärte ihr die Sortierkriterien und nannte die exakte Anzahl der Bilder pro Sektion. Alle Aufnahmen seien selbstverständlich digitalisiert, die wertvollsten Originale befänden sich im gepanzerten Untergeschoss. Mit Schlüsselbegriffen seien die Fotografien versehen, sortiert nach Kontinenten, Ländern, Orten, Konflikten und Schlachten, Ethnien, Epochen, eingesetzten Kampfmitteln, Waffengattungen und Siegen. Von den Opfern kein Wort. Es handelte sich angeblich um das größte Archiv in Privatbesitz, doch Raffaele Raccaro tat es lediglich als einen Spleen ab. Eine Leidenschaft, für die sich kaum jemand interessiere, obwohl hier die Weltgeschichte zu Hause sei. Er sehe es schließlich an den geringen Zugriffszahlen im Internet, dabei fänden sich Pretiosen darunter, die noch niemand gesehen habe – aus allen Kriegen seit Erfindung der Fotografie. Und es gebe Bilder, so behauptete er, die sogar Teile der Geschichtsschreibung verändern würden, wenn sich nur die richtige Person dafür interessierte. Im kleinen wie im großen. Deshalb sei es überaus wichtig, dass sie nicht in falsche Hände gerieten, denn die Historie sei eine abgehakte Sache, die man nicht zurückdrehen könne, auch wenn Teile der Gesellschaft dies unermüdlich versuchen.
»Die Verhältnisse scheinen zwar stabil zu sein, Signorina Natisone.« Der Mann, der ihr gerade bis ans Schlüsselbein reichte, schien es für charmant zu halten, die Vierundvierzigjährige mit Fräulein anzureden. »Die Wahrheit aber ist eineandere. Die Angriffe auf das System nehmen täglich zu. Die Linke gibt keinen Frieden. Die Kommunisten sind noch lange nicht entmachtet. Sie dominieren die Medien, die Staatsanwaltschaften und die Gerichte. Man muss irrsinnig auf der Hut sein mit dem, was man der Öffentlichkeit preisgibt, weil die Dinge sofort verfälscht werden. Bildmanipulation ist eine unglaubliche Waffe. Und wir befinden uns mitten in einem medialen Weltkrieg.«
Miriam hielt ihn für einen kleingewachsenen Wichtigtuer, der seine geringe Körpergröße mit übersteigerter Machtgier auszugleichen versuchte. Als sie sich vorgestellt hatte, sprach sie von einem Porträt über den Sammler und seine Leidenschaft, denn als solcher sei er schließlich eine Seltenheit. Er schien ihre Äußerung als Kompliment zu verstehen. Sie erwähnte nicht, dass sie die Aufmachung seiner Homepage an den Stil rechtsradikaler Organisationen erinnerte. Rot und Weiß auf Schwarz, dazu ein Foto von der Unterzeichnung des Drei-Mächte-Pakts durch die deutschen und italienischen Außenminister Ribbentrop und Ciano und den japanischen Botschafter am 27. September 1940 in Berlin. Dann Benito Mussolini mit zum römischen Gruß gereckter Hand bei der Verkündung der Rassengesetze 1938 in Triest auf der Piazza Unità, ein Foto von dem spanischen Caudillo Franco, der der Hinrichtung eines homosexuellen Kommunisten mit der Garrotte beiwohnt, und eines von der Erschießung dreißig äthiopischer Rebellen unter den Augen des Oberbefehlshabers Italienisch-Ostafrikas, Amedeo Duca d’Aosta. Das musste man erst einmal verdauen.
»Im digitalisierten Zeitalter lässt sich alles manipulieren, Dottor Raccaro. Da ist niemand mehr sicher, der Krieg beginnt vor der Haustür.«
»In der Tat ist man nicht einmal mehr hinter der eigenen Haustür sicher. Heute gibt es Teleobjektive, die weiter reichen als Scharfschützengewehre. Denken Sie nur an die Fälschungen,mit denen man unseren Regierungschef attackiert. Bilder, die ihn mit flotten jungen Mädchen zeigen, eines schöner als das andere.« Er grinste bis über beide Ohren. »Die Journalisten sind darauf reingefallen. Die Spanier, die Franzosen und ihr Engländer natürlich. Als hättet ihr keine eigenen Probleme. Aber irgendwann wird rauskommen, wer der große Manipulator war. Und obwohl dieser fast so perfekt arbeitet wie einst Stalin, sackt die Linke immer mehr in der Wählergunst ab. Verzweiflungstäter! Übrigens, meine Liebe, nennen Sie mich bitte Lele, alle nennen mich so. Lele, ohne Signor! An meinen richtigen Namen kann ich mich kaum mehr erinnern.«
»Sind Sie ernsthaft davon überzeugt, dass die Bilder Ihres Premiers Fälschungen sind?«
»Immerhin ermittelt die Staatsanwaltschaft, Miriam.« Er hatte sie zwar gebeten, ihn bei seinem Spitznamen zu nennen, doch hatte sie dieses Entgegenkommen nicht im geringsten erwidert. »Und überhaupt, Heinrich
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