Keine Frage des Geschmacks
VIII. hatte sechs Frauen, zwei hat er enthaupten lassen. Und ihr Engländer seid trotzdem stolz auf ihn. Verstehen Sie denn nicht, meine Liebe? Selbst wenn diese Fotos unseres Regierungschefs echt wären, schadete ihm das nicht die Bohne. Er ist ein großer Politiker, den anderen schon rhetorisch haushoch überlegen. Ein echter Leader, den das Land braucht. So, und jetzt knurrt mir der Magen, und ich habe Durst. Wollen wir nicht beim Abendessen weiterreden? Ich lade Sie gerne ein. Es ist nicht weit, wir können zu Fuß gehen.«
Miriam zögerte keine Sekunde. Es blieb ihr gar nichts anderes übrig, als seine Einladung anzunehmen, wenn sie an weitere Informationen kommen wollte. Als sie den Palazzo Vianello verließen, hatte Miriam den Eindruck, beobachtet zu werden. An der Kreuzung saß ein Mann mit einem schwarzen Sturzhelm auf einem schweren Motorroller. Lele nickte ihm im Vorbeigehen zu.
Auf dem Weg fragte Miriam, ob sich in dem beeindruckenden Archiv auch Fotos aus dem Abessinienkrieg befanden.
»Aber natürlich. Sind Sie meinen Ausführungen nicht gefolgt?« Er blieb kurz stehen und fasste sie am Arm. »Ich habe doch gesagt, dass hier nichts fehlt. Machen Sie einen Termin aus mit meiner Mitarbeiterin, Sie können die Sektion einsehen, wann immer Sie wollen. Ich sag ihr gleich Bescheid. Aufnahmen aus dem Luftkrieg, Axum Dessiè, die Tambien-Schlacht, Mai Ceu. Und vor allem 1934 der Angriff der Truppen des Negus auf die unseren im Wal-Wal-Tal. Eine schamlose äthiopische Aggression gegen die Askari, unsere somalischen Verbündeten in der Kolonie. Das war immerhin der Auslöser der Grausamkeiten. Davon reden die Linken nie. Geschichtsfälscher.«
Miriam biss sich auf die Zunge. Sie kannte die Geschichte ihres Landes genau. Dem grausamen Giftgaskrieg der Italiener fielen bis 1941 eine drei viertel Million Zivilisten zum Opfer und fast dreihunderttausend äthiopische Soldaten. Schon 1882 hatten die Italiener einen erfolglosen Angriff auf das Land gestartet, doch 1935 stellten sie mit dreihundertdreißigtausend Mann die größte westliche Armee auf dem afrikanischen Kontinent zusammen, um Mussolinis imperialen Wahn von einem zweiten Römischen Reich zu verwirklichen. Die faschistischen Truppen schlachteten die Bevölkerung ab, ein Massaker folgte dem anderen, und der erste Giftgaskrieg aus der Luft sollte erst vierzig Jahre später, 1983, im Iran-Irak-Krieg eine Wiederholung erfahren. Ihr eigener Großvater war einer dieser italienischen Soldaten gewesen und hatte gegen alle Vorschriften verstoßen, als er sich in ihre Großmutter verliebte. Es war streng verboten, sich mit Afrikanerinnen einzulassen, er hatte viel riskiert.
»Wir pfeifen auf alle Neger der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft und deren Verteidiger. Es wird nicht lange dauern,und die fünf Erdteile werden ihr Haupt vor dem faschistischen Willen beugen müssen«, hatte Mussolini damals verkündet, und der Erzbischof von Mailand applaudierte: »Gott führt uns in dieser nationalen und katholischen Mission des Guten, jetzt, da auf den Schlachtfeldern Äthiopiens die Fahne Italiens triumphierend das Kreuz Christi voranträgt.« Das Zeugnis eines Vertreters des Internationalen Roten Kreuzes redete Klartext: »Überall liegen Menschen. Tausende. An ihren Füßen, an ihren abgezehrten Gliedern sehe ich grauenhafte, blutende Brandwunden. Das Leben entflieht schon aus ihren vom Senfgas verseuchten Leibern.«
Als 1941 die Engländer, vereint mit den äthiopischen Truppen aus dem Exil, endlich siegten, hatte ihr Großvater sich versteckt. Er wollte nicht nach Italien zurück und war im Land geblieben, wo er einunddreißig Jahre später kurz vor seinem vierundfünfzigsten Geburtstag an Malaria und Tuberkulose starb.
Miriam überlegte einen Moment lang, ihren Gesprächspartner mit den Fakten über die Kriegsverbrechen zu konfrontieren. Raffaele Raccaro gehörte ganz offensichtlich zu jenen, die seit Jahren an einer neuen Geschichtsschreibung arbeiteten. Als genügte es, eisern an die Lügen zu glauben, mit der die Revanchisten sich zu Opfern stilisierten. Die Aussagen von Zeitzeugen und die Arbeit der Historiker aus der ganzen Welt wurde einfach annulliert.
»Sie kennen sicher das Foto von der bolschewikischen Führung, aus der man Trotzki herausretuschiert hat – den in Ungnade gefallenen Weggefährten Lenins, der im mexikanischen Exil mit einem Eispickel erschlagen wurde. Und auch Robert Capas berühmte Aufnahme des fallenden Soldaten im Spanischen
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