Keine Frage des Geschmacks
eine Münchnerin nach einem verregneten Sommer. Völlig überdreht setzte sie sich zu Patrizia und ihrem Vater an den Tisch und schenkte sich den Rest der Flasche ein.
»Das war der größte Fehler meines Lebens«, schimpfte sie. »Diese Filmmischpoke geht mir schrecklich auf den Wecker.«
»Ich habe dir doch gleich gesagt, du solltest dich als Schauspielerin bewerben«, sagte ihre Schwester. »Aber du wolltest ja unbedingt Skriptgirl werden.«
»Skriptgirl wäre zehnmal besser, als ständig die Unentschlossenheit dieser Idioten auszubaden. Immer krieg ich alles ab, dabei vermittle ich deren Quatsch doch nur.«
Während ihr vor Enttäuschung und Erschöpfung die Tränen in die Augen stiegen, blickte sie aufs nachtschwarze Meer. Eine halbe Meile vor der Küste hatten die Fischkutter ihre Scheinwerfer auf die Wasseroberfläche gerichtet, um die Sardellenschwärme in die ausladenden, sackförmigen Netze zu locken, bevor der Kran den Fang an Bord hievte und sich das Boot unter der Last seitwärts neigte. Die Lichtkegel derstarken Lampen reflektierten auf dem Meer und schienen fast die Küste zu berühren. Bis zur Terrasse der Laurentis drang das gleichförmige Tuckern der Dieselgeneratoren herauf, das unter normalen Umständen angenehm schläfrig machte.
»Die spinnen doch«, schimpfte Livia bitter. »Noch nie habe ich jemand so schlecht über seine Kunden reden gehört wie diese Typen! Die glauben, der Zuschauer sei dumm wie Bohnenstroh. Und der große Chef vom Sender, ein fetter, mächtiger Spießer, verschwindet ganz plötzlich auf Nimmerwiedersehen, ohne irgendjemand etwas zu sagen. Er ist nicht mal telefonisch zu erreichen. Nun machen sich alle bei jeder Entscheidung in vorauseilendem Gehorsam in die Hose und diskutieren darüber, ob der Zuschauer eine Liebesbeziehung zwischen den beiden Hauptdarstellern verkraftet.«
»Warum denn das?«, fragte Patrizia.
»Der deutsche Staatsanwalt ist ein verheirateter Mann, hat wie Papà drei Kinder, befindet sich auf einem Einsatz im Ausland und verguckt sich in die verheiratete italienische Polizistin.« Livia verzog verzweifelt das Gesicht.
»Ja und? Gehen Deutsche nie fremd?« Patrizia tippte sich ungläubig an die Stirn. »Auf welchem Planet leben die denn?«
»Das gefällt dem Zuschauer nicht, behauptet der Big Boss jedes Mal, wenn ihm etwas nicht passt. Und was macht der? Baggert eine Schauspielerin nach der anderen an, obwohl seine sehr junge Frau das zweite Kind erwartet. Dieser Saubermann!« Livia war wütend.
»Der hat doch nicht etwa ein schlechtes Gewissen? Da sieht man’s: Die ganze Welt geht fremd, und du hast im Moment nicht einmal einen einzigen Kerl«, lachte Patrizia.
»Wann auch? Ich hab keine freie Minute. Wenn ich das auch noch auf die Reihe bringen müsste …«
»Von welchem Chef redest du eigentlich?«, unterbrach Laurenti sie.
»So ein aufgeblasener Wichtigtuer.« Sie breitete ihre Arme weit aus. »Er hat bei allem das letzte Wort, und die Produktionsfirma bezahlt dem Herrn Direktor auch noch die Reise mit dem Autozug und den ganzen Aufenthalt. Für jeden Drink und jedes Abendessen bringt der eine Quittung und will sofort die Spesen erstattet haben.«
»Wo ist er, hast du gesagt?«
»Weg, einfach verschwunden. Kein Schwein weiß, wo er ist.«
»Wie sieht er aus? Beschreib ihn genau.«
»Sag mal, Papi, kannst du nicht ein einziges Mal vergessen, dass du ein Bulle bist?«
»Beschreib ihn, bitte!«
»Ach, groß, fett, unsympathisch. Drei Zentner Schwabbelmasse, manikürte Hände, strahlend weiße Zähne, dunkelbraune Strähnen, mit denen er die Glatze verdeckt. Und seine Klamotten müsstest du erst sehen!«
»Habt ihr eine Vermisstenmeldung gemacht?«
»Nein. Was ist, wenn er plötzlich wiederauftaucht? Wahrscheinlich vergnügt er sich in einem Puff in Slowenien.«
»Und wo ist er abgestiegen?« Die Personalien des Toten, den die Hafenfeuerwehr aus dem Meer gefischt hatte, stimmten mit den Meldedaten der Hotels nicht überein. Bis jetzt wusste keiner, wo man nach ihm hätte suchen müssen, und auf die Zeitungsmeldung hatte sich niemand bei den Behörden gemeldet.
»Wir haben ein Appartement für ihn gemietet. Dort ist er aber auch nicht.«
»Wo? Die Adresse, Livia!«
Gegen Mitternacht erweiterte sich der Familienkreis um Laura und Marco, die gleichzeitig nach Hause kamen. Laurenti holte unter dem missbilligenden Blick seiner Schwiegermutter, die vor dem Fernseher saß, eine weitere Flascheaus dem Kühlschrank. Marco wollte
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