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Keine Frage des Geschmacks

Keine Frage des Geschmacks

Titel: Keine Frage des Geschmacks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Bürgerkrieg ist gestellt. Mit der Wahrheit der Bilder muss man wahnsinnig auf der Hut sein.«
    »Und Sie sind in Triest geboren?«, unterbrach sie ihn. »Was hat Ihre Leidenschaft für solche Fotos geweckt?«
    »Ich kam erst nach der Befreiung der Stadt von der alliierten Besatzung in den Fünfzigern hierher. Sie wissen sicher, dass Triest am Ende des Zweiten Weltkriegs zu einem englisch-amerikanischen Freistaat ausgerufen wurde. Ein Pakt des Westens mit den Tito-Kommunisten.«
    »Wo kamen Sie zur Welt?«
    »Ich stamme aus einer armen Familie in einem kleinen Dorf im Friaul, wo es kaum was zu fressen gab. Wissen Sie, Miriam, eigentlich habe ich Sie nur wegen Ihres merkwürdigen Nachnamens empfangen. Natisone, so heißt der Fluss, an dem mein Geburtsort liegt. Lasiz, ein paar Häuser nur, in der Nähe von Púlfero. Ich bin gleich nach der Schule weggegangen, mit sechzehn. So einen wie mich nennt ihr Briten einen ›Selfmademan‹. Ignoranz ist etwas, das man selbst überwinden muss. Neugier und harte Arbeit sind die einzige Basis. Und gute Kontakte zu anderen Männern, die den Fortschritt suchen. Ich habe in einer Garage angefangen, Kaffee zu rösten. Ein gutes Geschäft, das ich rasch ausbauen konnte. Wir Italiener waren immer Seefahrer und Entdecker, Bauern oder gewiefte Kaufleute, und Triest ist eine Stadt, in der man es zu etwas bringen kann. Schauen Sie sich nur die hier gegründeten Versicherungsanstalten an, die Kaffeeröstereien, das Schifffahrtsgewerbe. Wer will, kommt hier zu Geld, er muss nur die richtigen Verbindungen pflegen.«
    »Das ist überall so«, warf Miriam ein. »Und die Bilder? Nur ein Spleen, wie Sie vorhin sagten? Das glaube ich nicht.«
    »Wer in dieser Gegend aufwuchs, weiß genau, dass jeder Friede nur von kurzer Dauer ist. Die meisten haben Angst davor, sich der grausamen Materie zu nähern. Als ich zu sammeln begann, gab es keine Konkurrenten, die die Preise hochtrieben. Kunst war eine Sache der Elite, dies aber ist der Stoff des Volkes. Übrigens war mein Vater, wie so viele, auch in unseren Kolonien. Er ist nicht aus Abessinien heimgekehrt.«
    »Gefallen?«, fragte Miriam.
    Lele zuckte die Achseln. »Was sonst? Wer blieb schon freiwillig in einem unzivilisierten Land, um dort dann an Malaria zu krepieren?«
    »Haben Sie keine Dokumente? Wie hieß er?«
    »Paolo. Raccaro, Paolo. 1918 geboren, mein Elternhaus war schon das seine gewesen. Ich kenne ihn nur von einem alten Familienfoto.«
    »Und haben Sie auch Kinder?«
    »Einen missratenen Sohn«, lachte Lele. »Alle Söhne sind missraten, das weiß jeder Vater. Da kann man nichts dran ändern. Ich hoffe, er geht irgendwann in die Politik. Die richtigen Verbindungen hat er schließlich. Kennen Sie übrigens das Bild von der Eroberung Berlins? Ein Rotarmist hisst die Rote Fahne auf dem Reichstag. Auch eine Fälschung. Alles gestellt, Tage später, als schon nicht mehr geschossen wurde. Kommunistische Propaganda!«
    Dieser Mann war ihr unheimlich, seine Argumente teils wahr, teils hanebüchen und so verschroben, dass sich Miriam fragte, ob er mit ihr spielte oder tatsächlich von dem Unsinn überzeugt war. Ohne Ablass über den Missbrauch der Bilder faselnd, führte er sie in einem zehnminütigen Spaziergang durch die sich herabsenkende Dämmerung zu einer Trattoria, in der man für riesige Portionen wenig bezahlte und in der sich seit Jahrzehnten scheinbar nichts geändert hatte. Als sie eintraten, wurde sie unverhohlen angestarrt, und Lele, der hier offensichtlich Stammgast war, erntete fragende Blicke. Die entwürdigenden Kommentare einiger Gäste waren deutlich zu hören: Seit wann führt man eine schwarze Nutte zum Abendessen aus? Hat er sich eine billige Frau gekauft? Völlig ungerührt fasste Lele sie am Ellbogen und führte sie zu einem Tisch an der Wand des Lokals, das gut hundert Plätze hatte.
    »Ich komme gerne hierher«, sagte Lele, als er ihren unruhigenBlick bemerkte. »Eine klassische Trattoria. Große Portionen, wenig Geld. Ich empfehle die Tintenfische in Sauce mit Polenta. Oder die Kartoffelgnocchi mit Gulasch, auch sehr typisch. Oder die Spaghetti mit Meeresfrüchten. Ja, ich denke, wir nehmen die.« Er bestellte, ohne auf Miriams Wünsche einzugehen.
    Lustlos stocherte sie in einer riesigen Portion Spaghetti mit Meeresfrüchten. Es schmeckte ihr nicht, der Koch schien eher ein Händchen für Masse zu haben als für Feinheiten. Auch die Räumlichkeiten behagten ihr nicht besonders. Wände und Decke schrien nach einem

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