Keine Frage des Geschmacks
neuen Anstrich. Die Papiertischdecken ließ sie durchgehen, der offene Wein war besser als das meiste, was in London serviert wurde, aber die Kellner waren barsch, hastig und übermüdet. Vor allem aber missfielen Miriam die Gäste, die sie musterten wie einen Affen im Zoo. Sie rührte das Gericht kaum an, während ihr Gastgeber seine Portion wie ein Mähdrescher verschlang. Ein Wunder, dass er die Muschelgehäuse übrigließ.
»Machen Sie sich nichts daraus, Miriam«, sagte er mit funkelnden Augen. »Ewiggestrige gibt es überall.« Dann fuhr er gleich mit seinem Lieblingsthema fort. »Die Frage ist immer die gleiche: Wer ist im Besitz der Bilder? Wer hat die Macht, sie auszuwählen? Die Leute glauben ja, was man ihnen zeigt.«
»Ein Dauerthema in Italien, oder nicht? Niemand kann sich ein solides Urteil bilden, wenn er zu wenig weiß. Oder wenn ein Teil der Wahrheit unterdrückt wird. Das Fernsehen Ihres testosterongesteuerten Premiers …«
»Papperlapapp! Alles Vorurteile, Miriam! Unser Land hat große Vorzüge und große Nachteile. Beide muss man nutzen können. Wer die Macht hat, bestimmt, was getan wird. Die Regierung ist vom Volk gewählt und Italien die älteste Kulturnation Europas seit der Antike. Wir sind in vielen Belangen einen Schritt voraus. Avantgardistisch, seit die Römer die Griechen abgelöst haben. Die moderne Gesetzgebung, dieEroberungen, die Verbreitung des Christentums, ein anderer Feldzug.«
»Ich hatte ganz vergessen, dass Jesus Italiener war.«
Lele überging ihren Einwurf und predigte weiter. »Denken Sie an die Renaissance! Die Kunst von Piero della Francesca, Michelangelo, Giotto, Bellini. Und Leonardo da Vinci. Und denken Sie an die ›Commedia dell’Arte‹! ›Live is a Cabaret‹, meine Liebe, und die Politik ist eine Komödie, ein Lustspiel! Nur so können Sie diese politische Show verstehen, Miriam. Versuchen Sie es, die Engländer sind dafür natürlich viel zu steif. Schafft doch endlich mal das Oberhaus ab und diese alte Dame mit dem Hut und dem Handtäschchen.«
»Die Wahlergebnisse …«, versuchte Miriam einzuhaken und wurde sogleich unterbrochen.
»… ermächtigen den Gewinner, das Land zu führen. Überlegen Sie nur einmal, welchen Fortschritt wir nach Ostafrika gebracht haben: Gesundheitswesen und Krankenhäuser gab es doch vorher in Abessinien nicht, uns hat man die Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft zu verdanken und genauso die Fabriken, die Post und natürlich die Eisenbahn. Der erste Flächennutzungsplan zur Errichtung des modernen Addis Abeba, ein Meisterwerk des Faschismus. Und was ist mit der ›Aida‹ von Giuseppe Verdi? Eine äthiopische Prinzessin als Geisel des Pharaos, die der Liebe willen auf ihr Leben verzichtet. Phantastisch!«
Raffaele Raccaro legte seine Gabel zur Seite, klopfte mit den Fingern auf eine imaginäre Klaviertastatur und stimmte ein paar Töne des berühmten Triumphmarsches aus der Oper an. Dann unterbrach er sich und lächelte Miriam versonnen an. »Aber Sie essen ja gar nichts, meine Liebe. Schmeckt es Ihnen nicht?«
»Sie vergessen die Opfer! Auch der Faschismus ist eine Erfindung der italienischen Avantgarde!« Miriam starrte entsetzt zurück.
»Von uns geliefert, von den Deutschen perfektioniert.« Er lachte aus vollem Herzen. »Die sind halt so: humorlos und ehrgeizig. Wenn sie könnten, würden sie auch noch den Siedepunkt des Wassers senken. Also, was wäre Europa denn ohne den Zweiten Weltkrieg? Noch immer das Feudaleigentum der Adligen. Sonst nichts. Und ich ein armer Bauernsohn geblieben, der nichts zu fressen hätte. Und Ihr Afrikaner wärt noch immer Neger, die wie Vieh auf Sklavenschiffe verladen und verkauft würden.«
Miriam hätte ihn am liebsten sitzenlassen, dieser Zynismus war unerträglich. Jede Woche erreichten Europa die Meldungen über eritreische Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertranken, weil die maroden Boote der Schleuserbanden kenterten, die sie aus Nordafrika nach Italien übersetzen sollten. Der kleine Mann in Rom hatte soeben ein Abkommen mit Libyen unterzeichnet, das erlaubte, sie umgehend zurückzubefördern. Und das Regime steckte sie in menschenunwürdige Kerker und lieferte sie anschließend an das Land aus, aus dem sie aus Angst um ihr Leben geflohen waren und wo sie spurlos verschwanden. Die Europäische Union segnete es ab. Zuvor hatte der italienische Premier sich bei Gaddafi für die italienischen Kriegsverbrechen Mussolinis entschuldigt und im selben Atemzug den Bau einer
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