Keine Frage des Geschmacks
wissen, mit wem sie redet.«
Nach dem langen Tag war Aurelio im Sessel vor dem Fernseher eingeschlafen, das halbvolle Whiskyglas stand auf einem Tischchen zu seiner Linken. Die Eiswürfel waren längst geschmolzen, als das Telefon klingelte. Er hatte die Verfolgung aufgegeben, als die Journalistin nach dem Abendessen mit Lele am Polizeipräsidium vorbeiging. Klar, dass sie nach ihren langen Streifzügen durch die Stadt um diese Zeit nur noch das nahe gelegene Hotel ansteuerte. Auch sie musste einmal schlafen gehen.
Der anfängliche Spaß, die Schleichkatze auszuspionieren, war Aurelio längst vergangen. Wäre Jeanette nicht eine solche Spielverderberin, dann hätte er jetzt wenigstens die Möglichkeit, sein Glück bei dieser aufreizenden Frau zu versuchen. So wie er es in den letzten Jahren häufig bei Touristinnen versucht hatte. Die Idee mit der Erpressung war ihm erst bei Jeanette gekommen, trotz des besonderen Vergnügens, in dessen Genuss er gekommen war. Jeanette war wirklich eine Wucht, doch so viel Geld und so viel Macht auf einmal waren zu verlockend gewesen. Es war die Chance, endlich einen Schlussstrich unter das Raccaro-Kapitel zu ziehen und ein neues Leben zu beginnen. Die anfänglichen Skrupel hatte er schnell überwunden. Auf Jeanettes Wichtigkeit ließ sich schon wegen der häufigen Telefonate aus England schließen, ihrer knappen Antworten und den unmissverständlichen Anweisungen. Ein heimlicher Blick in ihre Handtasche hatte genügt. In ihrer Brieftasche steckte außer einem Batzen Bargeld auch ihr Parlamentarierausweis. Mit dem Mobiltelefonmachte er ein paar Aufnahmen ihrer Dokumente und studierte sie am Abend genauer, nachdem Jeanette eingeschlafen war. Und die Sache über das Reisebüro von Giulio Gazza laufen zu lassen, verwischte alle Spuren. Den Kurier hatte er auf den frühen Morgen bestellt und in Udine vor dem Gebäude auf den Fahrer gewartet, der Fettsack kam ohnehin spät zur Arbeit. Und Jeanette hätte gewusst, wie sie ihn finden konnte. Er hatte fest mit ihrem Anruf gerechnet, sobald sie die Bilder erhalten hätte. Die Telefonnummer seines zweiten Mobiltelefons hatte sie schließlich gespeichert. Er hätte Entsetzen vorgespielt.
In Grado drängten sich die Touristen in den Gassen, und die Tische unter den Sonnenschirmen vor den zahlreichen Restaurants und Trattorien waren gut besetzt. Nicht alle Urlauber verbrachten die Mittagszeit also am Meer, viele zogen die Brise aus den Ventilatoren dem heißen Südwind vor, der über die Strände fegte.
Es war schon der dritte Tag, den er hinter dieser Frau herlatschte. Scheinbar ziellos trödelte die Schleichkatze durch den Ort, und mit Prospekten in der Hand war sie ausgerechnet aus dem Hotel gekommen, in dem Aurelio die Engländerin beglückt hatte. Doch diese Journalistin schien sich lediglich einen schönen Tag machen zu wollen. Welchen Sinn hatte es also, ihr auch noch in Grado zu folgen? Aurelio schimpfte auf Lele, der ihn zu diesem Job zwang, doch hatte er nicht den Mumm, sich dem Befehl zu widersetzen. Er war müde, immer wieder gähnte er lange.
Er fuhr aus seinen Gedanken hoch, als die Journalistin plötzlich ihren Schritt beschleunigte und so zielstrebig, als hätte sie ihn studiert, einen Weg einschlug, den er nur allzu gut kannte. Vor einem unscheinbaren dreistöckigen Gebäude mit himmelblauer Fassade blieb sie stehen und studierte dasmehrsprachige Schild neben dem Gartentor. Das »Bed & Breakfast Nontiscordardimé«, Vergissmeinnicht, lag zentral und war aufgrund der für die geräumigen Zimmer günstigen Preise seit Jahren Aurelios bevorzugtes Quartier. Miriam klingelte und trat durch das Tor, hinter dem in einem liebevoll gepflegten Vorgarten eine üppige Blütenpracht den Weg zum Haus säumte.
Wie zum Teufel war die Journalistin so schnell an diese Adresse gekommen? Jeanette hatte ihn nie danach gefragt. Plötzlich schlug sein Puls höher, er war aufgebracht und trat von einem Fuß auf den anderen. Er musste ihr zuvorkommen und unter allen Umständen verhindern, dass jemand seine Daten herausrückte oder sie einen Blick in die Kundendatei werfen ließen. Eine Katastrophe bahnte sich an. Aurelios Adresse stimmte mit der von Lele überein. Hastig wählte er die Nummer des Gästehauses und musste lange warten, bis endlich jemand abnahm. Aufgeregt stammelte er seinen Namen und war bereits beruhigt, als er die weiche Stimme der Inhaberin vernahm, die ihn seit langem kannte. In wenigen Worten legte er dar, dass sie
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