Keine Frage des Geschmacks
Monfalcone hinter sich gelassen hatte, wurde die Gegend platt wie eine Flunder. Weitläufige Maisfelder wechselten sich ab mit Weinbau und Obstplantagen, manchmal kam ein Flusslauf oder ein Stück der Lagune dort zum Vorschein, wo das Grün die Sicht freigab. Zwei Brücken überquerte sie, an einer prangte ein Schild mit der Aufschrift »Isonzo«, das Wasser war jadegrün. Wenig später lagen eine Touristensiedlung und ein Campingplatz linker Hand, Autos mit österreichischen und deutschen Kennzeichen trödelten vor ihr her, bis sie endlich die Ortstafel passierte: »Grado – Insel der Sonne«. Sie folgte der Ausschilderung und fand tatsächlich einen freien Parkplatz kurz vor der Fußgängerzone. Der weiße Motorroller, den sie vor einer halben Stunde im Rückspiegel ausgemacht hatte, fuhr vorbei, ohne dass der Fahrer den Kopf nach ihr drehte, das Kennzeichen kannte sie. Die Parkgebühr sparte sie sich, ein Leihwagen. Zum Hotel Savoy, in dem Jeanette im Mai abgestiegen war, fand sie leicht. Ein angenehmer Kasten mit weitläufiger, klimatisierter Lobby, gemütlichem Gästegarten und Schwimmbad. Die Rezeptionistin rief sofort den Hotelier, als Miriam sich als Journalistin vom »Traveller« vorstellte. Der Mann sprach mit unverkennbar deutschem Akzent, bat sie zuvorkommend, Platz zu nehmen, und orderte zwei Kaffee. Ohne besondere Mühe gelang es ihr, ihn davon zu überzeugen, den Ehrenkodex seines Metiers zu brechen und über einen Gast Auskunft zu geben. Man bemühte sich in Zeiten der Wirtschaftskrise schließlich auch vermehrt um englische Touristen, welche die direkte Flugverbindung nach London schätzten. Ein negativer Artikel in der englischenPresse wäre kontraproduktiv. Natürlich erinnerte sich der Mann an Jeanette, und dann fiel bei ihm der Groschen. Er hatte die Lokalzeitungen gelesen, und in diesem beschaulichen Badeort kannte man sich und auch viele der Stammgäste, die anderswo Quartier bezogen hatten.
Inzwischen war es elf Uhr, und die Straßen waren von Touristen bevölkert. Sie schlenderte ohne Eile durch die Sträßchen, betrachtete die Schaufenster der Souvenirläden, ging zur Uferpromenade und trank einen Caffè shakerato mit Blick auf den Sandstrand. Sie hatte alle Zeit der Erde, ihr Verfolger sollte leiden. Zurück im Zentrum betrat sie auf dem Campo dei Patriarchi die Kirche der heiligen Euphemia, danach das Baptisterium und die »Basilica di Santa Maria delle Grazie«, in der sie die Mosaiken aus dem fünften Jahrhundert bewunderte – vor allem aber genoss sie die kühle Frische in den Gotteshäusern, während ihr Schatten draußen der Hitze ausgesetzt war. Sie gab sich nicht die geringste Mühe, ihm zu entkommen.
*
»Eine nette Geschichte. Diese englische Abgeordnete ist meiner Meinung nach eine aufgeweckte Person. Sie setzt sich mit allen Mitteln zur Wehr«, sagte Galvano ganz leutselig. Der Commissario hatte vorgeschlagen, ihn zur Bar Portizza am Börsenplatz zu begleiten.
»Und ich soll diesen Schürzenjäger finden. Stell dir vor, die Staatsanwältin hat ausgerechnet mir die Sache aufs Auge gedrückt. Sie behauptet, es sei Diplomatie gefordert.«
»Da bist du ja wirklich der Richtige«, spottete Galvano. »Wer ist der Kerl?«
»Er hat ein Reisebüro in Udine. Seine Akte ist nicht gerade dünn. Vorstrafen wegen Betrügereien, aber auch Körperverletzung, Schlägereien. Ein Nichtsnutz, der versucht, sichdurchs Leben zu mogeln. Er wohnt in einem kleinen Haus in der Via dell’Eremo, das ihm die Eltern hinterlassen haben. Auf meine Anrufe antwortet er nicht, und um sechs heute früh war er nicht daheim. Vermutlich hat er noch eine andere Absteige.«
»Wenn so einer die Nummer der Questura im Display sieht, wird er schwerhörig.«
»Nicht einmal, als ich die Nummer ausgeblendet habe.«
»Nach dem, was über ihn in der Zeitung stand, wird er schon genug Anrufe bekommen haben.«
»Jetzt muss ich auch noch nach Udine fahren, um ihn zu vernehmen.«
»Selbst drüben im Friaul ist nicht alles Gold, was glänzt. Überlass den Kerl deinen Kollegen vor Ort. Im übrigen ist es doch mehr als wünschenswert, dass sich endlich einmal eine prominente Frau solche Freiheiten herausnimmt, ganz wie ihre Kollegen.«
»Sie würde sofort als Nutte abgestempelt, über den Mann kein Wort. Wenn die deutsche Kanzlerin sich wie unser Regierungschef benähme …«
»Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum man sich darüber aufregt«, unterbrach ihn Galvano. »Ludwig XV. hat sich jeden Tag eine
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