Keine Frage des Geschmacks
schmückte er die trockenen Meldungen aus der Questura zu wahren Kurzromanen aus. Aurelio nannte seinen Namen nicht und formulierte stattdessen drei klare Sätze: »Es dreht sich um die Engländerin. Die Fotos hat Giulio Gazza gemacht, der Speicherchip ist in seiner Wohnung. Die Bullen sollen nach Hohlräumen suchen.«
»Und wo genau?«, fragte der Redakteur trocken. Er wusste aus Erfahrung, dass es keinen Sinn hatte, nach dem Namen des Anrufers zu fragen.
»Sie sollen sich Mühe geben.«
Der Redakteur hörte nur noch ein Knacken in der Leitung. Er schaute auf die slowenische Rufnummer, die er vom Display abgeschrieben hatte, dann kramte er in dem hohen Stapel Papier, der über die Hälfte seines Schreibtischs einnahm und von dem nur er wusste, was dieser enthielt. Es dauerte nicht lange, bis er den Aktendeckel hervorzog, der den Namen Giulio Gazza trug. Er überflog seine beiden Artikel.Während er die Nummer von Laurentis Mobiltelefon wählte, fuhr Aurelio bereits wieder über die Viale d’Annunzio in die Stadtmitte zurück.
*
»Sind sie schon wieder zurück?«, fragte der Taxifahrer. »Ganz ohne Gepäck?«
Der Zufall wollte, dass vor ihr der gleiche Wagen zu halten gekommen war, der sie schon bei ihrer Ankunft in Triest in die Stadt gebracht hatte. Groß war die Auswahl an diesem kleinen Flughafen ohnehin nicht. Die Fahrt kostete das Dreifache des Billigflugs nach London, Miriam warf einen Blick aus dem Heckfenster und war beruhigt. Ihr Trick hatte funktioniert.
»Und, haben Sie sich wegen Ihres Nachnamens erkundigt?«, fragte der Taxifahrer.
Miriam schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich bin in das Tal gefahren, das Sie genannt haben. Die Straßen waren leider so eng und kurvig, dass ich kehrtmachte, bevor ich zur Quelle des Flusses fand. Schöne Landschaft, aber wen sollte ich fragen?«
»Und die Kaffeegeschichte? Sind Sie weitergekommen?«
»Ich muss nur noch ein paar Kleinigkeiten überprüfen. Hier ist alles anders als sonst wo.«
»Ach wo! Das sehe ich nicht so. Wir sind eine ganz normale Stadt.«
Der Wagen hielt in der Via Trento vor der Hausnummer, die Jeremy Jones ihr während des Telefonats in der Nacht genannt hatte. Seine Kanzlei arbeitete mit der Sozietät in Seerechtsfragen zusammen, doch auch zwei profilierte Strafrechtler praktizierten dort. Nach seinen Worten konnte sie sich auf diese Anwälte verlassen, er habe selbstverständlich überprüft, in welcher Beziehung sie zu Raffaele Raccaro standen,denn in Provinzstädten seien meist alle miteinander bekannt, die einer gewissen Kaste angehörten. Bei Mandanten löste es oft erhebliche Zweifel aus, wenn sie ihre Verteidiger mit denen der Gegenseite ganz freundschaftlich einen Kaffee trinken sahen oder erfuhren, dass sie zusammen Golf spielten. Doch die Leute von »Beltrame, Grandi & Kraft Associati« hätten schon früh erkannt, dass sie mit der Vertretung der Gegner von Raffaele Raccaro und seiner Clique aus Politikern und dubiosen Geschäftemachern gut verdienen konnten. Miriam möge sich an Fausto Aiazzi wenden, einen versierten Kollegen.
Der Anwalt erwartete sie bereits. Zusammen mit dem Kennzeichen des Scooters übergab sie ihm Aurelios Personalien. In einem kurzen Telefonat erfuhr Aiazzi, dass das Fahrzeug ebenfalls in der Via Donota 1 gemeldet war.
»Das Hochhaus gegenüber dem Polizeipräsidium, neben dem Römischen Theater«, erklärte er. »Wir kennen den jungen Mann. Er ist das Faktotum von Raffaele Raccaro, der den vierzehnten Stock bewohnt. Ganz oben. Schwer vorzustellen, dass Aurelio Selva in seinem Auftrag handelte, als er Ihre Freundin verführte und erpresste. Raccaro spinnt andere Fäden.«
»Und dass dieser Aurelio mich beschattete, an mir hing wie eine Klette?«
»Das ist kein gutes Zeichen«, sagte Aiazzi. »Er ist als gewalttätig bekannt. Mein Kollege Jones sagte, dass Sie nicht dazu zu bewegen sind, die Stadt zu verlassen. Das Zentrum ist überschaubar. Ich fürchte, Sie werden schnell wieder entdeckt, wenn Sie hierbleiben. Überlegen Sie es sich bitte noch einmal.«
Miriam schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Ich ziehe die Sache durch.«
»Bedenken Sie bitte, mit Raccaro scherzt man nicht. In drei Fällen vertreten wir derzeit seine Kontrahenten. Raccarohat die besten Chancen, sich trotz der Fakten herauszuwinden. Seine Anwälte versuchen mit allen Tricks, die Verfahren zu verschleppen, ein Spiel mit den Verjährungsfristen.«
»Und um was dreht es sich?«
»Zwei Prozesse laufen bereits in der
Weitere Kostenlose Bücher