Keine Frage des Geschmacks
die sich Aurelio dafür einfing. Und regelmäßig hatte er im gemeinsamen Zimmer ganz ungeniert onaniert.
Aurelio hatte ihn verachtet und sich unterm Bett verkrochen. Als er einmal den Mut aufbrachte und der Mutter Andeutungen machte, setzte es zuerst ihre Ohrfeigen und später eine so heftige Tracht Prügel von Giulio, dass ihn eine Woche lang die Rippen schmerzten.
Gazza war siebenundzwanzig und schrecklich fett geworden, als der sechzehnjährige Aurelio ins Internat geschickt wurde. Noch immer hatte er keinen Beruf ergriffen und hing am Rockzipfel der Mutter, der die Kraft fehlte, ihn in den Hintern zu treten. Stattdessen steckte sie ihm heimlich Geld zu, selbst wenn er nicht danach fragte. Vom Tod des Pflegevaters hörte Aurelio erst nach der Beerdigung, er war nicht eingeladen gewesen. Und als er in den nächsten Sommerferien nach Hause kam, wie er es nannte, denn immerhin hatte er seine ganze Kindheit dort verbracht, eröffnete die Mutter ihm während des Mittagessens, dass er ab sofort eine neue Adresse in Triest hatte, wo er aufgenommen würde. Aurelio hatte sich auf die Lippe gebissen und schweigend auf den Zettel mit der Anschrift gestarrt. Nach den Gründen fragte er nicht. Zögernd hatte er sich erhoben, sein Blick lag auf der Frau, deren Haar im letzten Jahr schlohweiß geworden war. Regungslos ließ er sich von ihr umarmen, seine großen Augen blickten ins Leere.
Er hatte seine unausgepackte Tasche genommen, war die Scala Bonghi hinuntergegangen bis zur Via Sinico, wo er in den Elfer-Bus stieg, der ihn bis ins Stadtzentrum brachte. Als er an dem Hochhaus beim Teatro Romano klingelte, rastesein Herz, und erst als er aus dem Aufzug gestiegen und von einem kleinen dürren Mann begrüßt worden war, der ihn in die Wohnung und dort auf den Balkon mit dem unendlichen Ausblick führte, beruhigte er sich wieder. So schlecht schien ihm der Tausch gar nicht, immerhin musste er nun Giulios Bösartigkeiten nicht mehr ertragen. Sein neues Zimmer war groß, auch wenn sich das Fenster zum Berg öffnete, statt zum Meer, wie er es sich ausgemalt hatte. Der kleine Mann hatte ihn Auro gerufen und gesagt, er solle ihn Lele nennen, er würde ab jetzt für ihn sorgen. Der Frau sei das Leben schwer geworden, seitdem ihr Mann verstorben war. Auf die zaghaften Fragen nach seiner eigenen Mutter aber verweigerte der Alte vehement jede Auskunft. Nur wenn die beiden Krach hatten, betitelte Lele sie mit den derbsten Ausdrücken.
Vor den Nachforschungen im Meldeamt drückte Aurelio sich bis heute. Was immer er dort erfahren sollte, es würde sowieso nichts an seinem Ziel ändern, so bald wie möglich und für immer aus Triest zu verschwinden.
Aurelio sah sich um, die Wohnung war schrecklich verwahrlost. In der Küche stapelte sich ungespültes Geschirr, der Müll stank entsetzlich und ein Schwarm schwarzer Fliegen bedeckte die Scheiben. Er war drauf und dran, die Fenster zu öffnen, doch dazu war er ebenso wenig hier wie es später die Bullen zum Reinemachen sein würden. Wie konnte man nur so leben?
Er ging in den dritten Raum: das Zimmer, das er sich in seiner Kindheit mit der Qualle hatte teilen müssen. Es fehlten nur die Betten, Giulio war offensichtlich ins Schlafzimmer seiner Eltern umgezogen, nachdem er vor drei Jahren auch seine Mutter begraben und damit das Haus geerbt hatte. Neben dem Fenster kniete Aurelio nieder und klopfte gegen die Sockelleiste, bis er den Hohlraum fand, den er in seiner Kindheit freigelegt hatte, um darin seine liebstenDinge vor Giulio zu verstecken. Er legte den Speicherchip aus dem Fotoapparat und die Empfangsquittung des Kurierdienstes hinein und verschloss das Loch wieder. Sein Blick fiel auf ein Fotoalbum, das halb aufgeblättert am Fuß der Glasvitrine im Salon lag. Er zog ein Bild der Frau, die ihn aufgezogen hatte, heraus, als ihre Haare noch dunkel waren und ein fröhliches Lachen ihre Augen blitzen ließ. Er schob es in die Gesäßtasche und ging hinaus. Keine Viertelstunde war seit seiner Ankunft vergangen, bis er den Scooter startete, zur Villa Revoltella hinauffuhr und wenig später auf die Autobahn Richtung Koper einbog. Hinter dem ehemaligen Grenzübergang fuhr er auf die Tankstelle, bezahlte das Benzin und verlangte eine Telefonkarte. Neben den Toiletten hing ein öffentlicher Fernsprechapparat. Die Zentrale der Redaktion des »Piccolo«, der größten Tageszeitung Triests, verband ihn anstandslos mit dem Redakteur, der für den Polizeibericht zuständig war. Seit Jahrzehnten
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