Keine Frage des Geschmacks
seine Adresse unter keinen Umständen preisgeben durfte. Er berief sich auf die alte Bekanntschaft, die sie verband, und versprach, beizeiten alles persönlich zu erklären. Und in dem Moment, als er sah, wie sich die Haustür öffnete und die Schleichkatze auf die Straße hinaustrat, hörte er das Bedauern der Wirtin.
»Es tut mir leid, das hätte ich früher wissen müssen. Aber du kannst das sicher zurechtbiegen, Aurelio. Bisher hast du noch jede um den Finger gewickelt. Bleibt es bei deiner Buchung für die zweite Augusthälfte?«
Statt seiner Antwort hörte sie ein Tuten in der Leitung.
*
Miriams Recherchen waren erfolgreich. Nun kannte sie auch Aurelios Nachnamen sowie sein Geburtsdatum und die Adresse. Aurelio Selva, ein junger Mann von achtundzwanzig Jahren. Gut gelaunt gab sie die Angaben an Jeremy Jones weiter und begab sich zu ihrem Wagen. Den Strafzettel unter dem Scheibenwischer zerknüllte sie und warf ihn hinter den Sitz.
Auf der Rückfahrt ließ sie sich Zeit und überholte keines der vor ihr bummelnden Touristenautos. Dafür vergewisserte sie sich, dass ihr der Schutzengel auf seinem schweren Motorroller folgte, bis sie eine halbe Stunde später auf den Parkplatz der Autoverleiher am Flughafen Triest-Ronchi dei Legionari einbog. Und als sie am Schalter den Wagen zurückgab, sah sie endlich auch sein Gesicht ganz aus der Nähe. Gelangweilt blätterte er in der Abflughalle einen Prospekt des Fremdenverkehrsamts durch. Ein wirklich hübscher Junge. Sie ging zum Check-in und gab ihr Gepäck auf. Der Flug nach London war planmäßig für 14.30 Uhr angezeigt. Miriam zog die Buchungsbestätigung aus ihrer Handtasche, die sie gestern Nacht noch per Internet getätigt hatte. Lowcost, die paar Euro waren gut investiert, zumal sie ihren Schatten nun am Eingang des überschaubaren Flughafenterminals lauern sah. Als sie Passkontrolle und Sicherheitsschleuse hinter sich hatte, drehte sie sich noch einmal nach ihm um. Sie war versucht, ihm zuzuwinken, doch er war nirgends mehr zu sehen. An der Bar bestellte sie ein Tramezzino mit Thunfisch und Ei und ein Glas Prosecco. Als der Flug aufgerufen wurde, fragte Miriam nach dem Ausgang. Es gibt Reisende, die es sich im letzten Moment anders überlegen.
*
Aurelio parkte die SpiderMax zwischen zwei Autos in der Via dell’Eremo und verstaute seinen Integralhelm unter dem Sattel. Er blickte sich flüchtig um, doch an diesem heißen Tag war niemand auf der Straße; einmal hörte er aus einem geöffneten Fenster Geschirr klappern. Zwei getigerte Katzen lagen faul im Schatten eines Busches und würdigten ihn keines Blicks, als er die Scala Bonghi hinabstieg. Diese Treppe war der einzige Zugang zu den im Grün versunkenen Häusern, die man in den zwanziger Jahren an den Hang gebaut hatte. »Rione del Re«, das königliche Viertel, hatte man es damals getauft. Es sollte einst Mittelständlern als neue Bleibe dienen – Kaufleuten, Beamten, Angestellten. Dafür sollten sie die mittelalterlichen Bauten im Stadtzentrum räumen, um Platz für eine imperiale Bebauung zu schaffen, die dem Größenwahn von Mussolinis Parteibonzen entsprach. Man hielt diese Siedlung damals für einen großen architektonischen Wurf und hatte sie in Windeseile errichtet. Jetzt vernachlässigte die Stadtverwaltung das Viertel so sehr, dass die Anwohner protestierten. Sie maulten über Wildschweinrotten, wucherndes Unkraut und Büsche voller Zecken. Auch die nächtliche Beleuchtung der Treppe sei lausig. Immerhin hatten die Stadtwerke mit einer endlosen Sanierung begonnen, die unübersehbare Schutthaufen hinterließ.
Aurelio bog in die zweite Gasse ab, stieg die Treppe zu einem der Doppelhäuser empor und zog sein Werkzeug aus der Tasche. Er schaute sich noch einmal um, stülpte Latexhandschuhe über und schloss keine Minute später die Tür hinter sich. Gestank hing in den Räumen, mattes Licht drang durch die Fensterläden.
Er kannte jeden Quadratzentimeter dieser Wohnung. Hier hatte er seine Kindheit verbracht, bis sein Gönner ihn auf ein Internat am Gardasee geschickt hatte, wo er das Abitur absolvieren sollte. Bis dahin hatte er das Zimmer mit dem Jungen geteilt, der elf Jahre älter war als er. Giulio hatte ihnvon Anfang an schlecht behandelt und getriezt, wo er konnte. Er hatte die Entscheidung seiner Eltern, den Kleinen aufzunehmen, nie akzeptiert und es ihn spüren lassen. Alles, was er selbst verbockt hatte, schob er ihm in die Schuhe und freute sich über die Ohrfeigen,
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