Keine Frage des Geschmacks
nicht mehr am Molo IV.
Laurenti schimpfte mit sich selbst. Warum hatte er nicht drei Kilometer früher, an der Abfahrt Flughafen/Ronchi dei Legionari, den Blinker gesetzt und sich bis zur die Küstenstraße durch die Werftenstadt Monfalcone geschlängelt? Sein Wagen fuhr auf dem letzten Tropfen, genauer gesagt, er stand. Ferienbeginn, der »große Exodus«, wie der alljährliche Megastau auf den Autobahnen vom Nachrichtensprecher genannt wurde. Fünfzehn Millionen Italiener hatten Angst vor der Einsamkeit und bewegten sich an diesem Wochenende gleichzeitig im Stop-and-go auf ihr Urlaubsziel zu, als wollten sie die Wirtschaftskrise verhöhnen. Auf dieser Hauptverkehrsachse nach Westen herrschte seit Jahren ein Notstand, der offensichtlich alle traf, außer die Entscheidungsträger inden öffentlichen Ämtern. Der dringend erforderliche Ausbau der Strecke wurde seit Jahren verschleppt, obwohl halb Osteuropa über diese Trasse drängte. Neunzehn Millionen Lkws jährlich und fünfzig Millionen Autos. Sowie die Karawane der mit Menschen und Waren überladenen Lieferwagen aus Rumänien, Bulgarien, der Ukraine und Moldawien, deren Fahrer ohne Pausen durch Europa bretterten. Und in dieser Saison gesellten sich noch die Urlauber hinzu, auf der Jagd nach der Ruhe am Strand, die in dieser Saison wohl nur finden würde, wer Besitzer einer Insel war.
Das Gebläse der Klimaanlage lief auf Hochtouren, und doch schwitzte Laurenti und rutschte unruhig auf dem Ledersitz seines Alfa Romeo hin und her. Er war kurz davor, auf den Standstreifen auszuscheren, über die Leitplanke zu springen und sich, trotz all der Zuschauer, von dem zunehmend heftigeren Druck auf die Blase zu erleichtern. Normalerweise dauerte die Fahrt von Udine in die Landeshauptstadt kaum mehr als eine halbe Stunde. An einem gewöhnlichen Wochentag säße er schon wieder an seinem Schreibtisch, doch jetzt lagen noch fünf Kilometer bis zur Mautstelle Lisert vor ihm, erst danach würde es flotter vorangehen. Warum zum Teufel hatte er das nicht bedacht? Längst hätte er ausgiebig und völlig entspannt gepinkelt, sich mit einem Caffè shakerato erfrischt, die Unterlagen auf dem Schreibtisch deponiert und Marietta ein kurzes Überstellungsgesuch für den Inhaftierten diktiert, der inzwischen unter wütendem Protest im Knast von Udine einquartiert worden war. Und auf dem Heimweg vom Präsidium hätte Laurenti sich noch auf der Diga vecchia, der Badeanstalt auf dem Deich vor dem Alten Hafen, ein Bad im Meer gegönnt. Wie so oft in diesem Sommer, wenn er sich am Spätnachmittag von dem alten »Launch-Service«-Boot übersetzen ließ, das hier nach jahrzehntelangem Einsatz im Hafen nun seinen letzten Dienst tat. Gemma würde dort auf ihn warten, doch wenn dieser verfluchte Stausich nicht endlich auflöste, dann könnten sie sich erst am Montag wiedersehen. Am Wochenende waren zu viele Menschen am Meer, um unerkannt zu bleiben. Vor allem von Lauras Freundinnen, die sich sogleich das Maul über sie zerreißen würden.
Die Schlange bewegte sich keinen Meter. Der Druck auf der Blase trieb Laurenti den Schweiß auf die Stirn und ließ ihn zugleich frösteln. Den Gedanken, das Blaulicht aufs Dach zu stellen und die Sirene einzuschalten, hatte er schnell verworfen. Nur zwei Fahrspuren führten zur Mautstelle, und der Standstreifen war von Lkws blockiert, die ihren Aufschriften nach zu der deutschen Fernsehfilmproduktion gehörten. Zweiradfahrer schlängelten sich vorbei und verlängerten für die anderen die Wartezeit an den Kassenhäuschen. Mit Sorge linste Laurenti auf die Tankuhr. Der Asphalt kochte, vierundvierzig Grad Celsius zeigte die Außentemperaturanzeige. Vom Karst stiegen in der Ferne schwarze Rauchwolken auf, und Löschflugzeuge flogen ununterbrochen ihre Einsätze, nachdem sie in der Bay vor Monfalcone die Wassertanks vollgepumpt hatten. Aus dem Funkverkehr erfuhr er, dass das Feuer nördlich von Doberdò del Lago ausgebrochen war und die italienischen Feuerwehrleute mit ihren slowenischen Kollegen und dem Zivilschutz Hand in Hand arbeiteten, aber noch lange nicht Herr der Lage waren. Vermutlich wieder einmal das Werk eines hirnamputierten Brandstifters.
»Marietta!«, rief Laurenti schließlich ins Mikrofon des Autotelefons. »Gibt’s was Neues aus der Gerichtsmedizin?«
»Nee. Zerial hat erst nach dem fünften Anruf geantwortet und gesagt, dass er vor dem Wochenende nicht an ihm herumschnippelt. Frühestens Montag! Er ist am Wochenende nur in Notfällen
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