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Keine Gnade

Keine Gnade

Titel: Keine Gnade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Annechino
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seine Mutter und seinen Vater, Cousins, Tanten und Onkel. Alle sind wandelnde Leichen, ihre Gesichter kalkweiß. Und wie auf den Wink eines Regisseurs deutet jeder von ihnen auf die in die Sockelleiste an der Wand gesteckte elektrische Leitung des Beatmungsgeräts, das Aleta am Leben hält. Im Sprechgesang fordern sie ihn alle zusammen auf: »Zieh den Stecker, Alberto!« Wieder und wieder ist diese Bitte zu hören. Mit jedem Mal werden ihre Stimmen ein wenig lauter. Und nach nur knapp einer Minute deuten sie auf die Steckdose und schreien: »Zieh den Stecker, Alberto! Zieh den Stecker!«
    Al hält sich die Ohren zu, aber er kann sie immer noch hören. Er geht zur Steckdose und greift nach der elektrischen Leitung. Seine Hände zittern, doch er weiß, dass er nur so diese ohrenbetäubend laute Aufforderung zum Verstummen bringen kann. Der Sprechgesang wird immer noch lauter und lauter. Und genau in dem Moment, in dem er den Stecker ziehen will, um das Leben seiner Schwester zu beenden, erwacht er aus tiefem Schlaf.
    Er ist schweißbedeckt, und sein Herz hämmert in seiner Brust. Völlig desorientiert, als ob er in einem fremden Hotelzimmer aus einem Alptraum hochgeschreckt ist, versucht er, seine Gedanken zu sammeln. Seine Hände hören nicht auf zu zittern. Er versucht, seinen Blick auf Aleta zu richten, doch durch den Schweiß verschwimmt alles vor seinen Augen. Er wischt sich mit dem Ärmel über die Augen und sieht sich um. Außer ihm und seiner Schwester war niemand hier. Der Sprechgesang war verstummt, und seine Verwandten waren verschwunden. Jedes Mal, wenn er diesen Traum hatte, wachte er auf, kurz bevor er den Stecker zog. Er hatte Angst vor dem Tag, wenn es kein Traum mehr wäre und er tatsächlich vor der Entscheidung stünde, das Leben seiner Schwester zu beenden.
    Immer noch außer Atem und voller Unruhe brauchte Al jetzt frische Luft, um seinen Kopf wieder freizubekommen. Aber da er immer noch unsicher auf den Beinen war, hielt er es für besser, noch ein paar Minuten sitzen zu bleiben.
    Â»Sonnenblume«, flüsterte er, »ich bin bei dir. Kannst du mich hören?«
    Als er ihr Gesicht eingehend betrachtete, fiel ihm auf, dass ihre Augenwinkel kaum merklich zuckten. Als er genauer hinschaute, konnte er sehen, dass ihre Augen unter ihren Lidern hin und her wanderten. In all den Stunden, die er an ihrer Seite verbracht hatte, waren ihm nie Gesichts- oder Augenbewegungen aufgefallen.
    Â»Ich bin’s, Alberto, meine Sonnenblume. Wenn du mich hören kannst, mach bitte deine Augen auf.«
    Er nahm ihre Hand und hielt sie ganz fest. Er schloss seine Augen und betete das Gebet, das er sicher schon hundert Mal wiederholt hatte, ein Gebet zu einem Gott, zu dem er keine Beziehung hatte. Trotzdem ein Gott, von dem Al annahm, dass er sein Flehen hören konnte.
    Er fühlte, wie Aleta seine Hand drückte.
    Seine Augen flogen auf, und er konzentrierte sich auf ihr Gesicht. Als er sah, dass sie ihn mit halb geöffneten Augen anstarrte, dachte er, dass es sicherlich ein Traum war. Er drückte ihre Hand, und sie drückte seine sofort wieder.
    Â»Kannst du mich hören, Sonnenblume?«
    Sie nickte mit dem Kopf und zeigte auf ihre Kehle. Ihr Gesicht war vor Schmerz verzogen. Al meinte zu wissen, was sie ihm sagen wollte. Sie wollte das verdammte Beatmungsgerät loswerden. Er wollte sie nicht allein lassen, rannte aber auf den Flur, um eine Krankenschwester zu holen.

30    Julian las die riesige Schlagzeile auf der Titelseite des San Diego Chronicle:
    HABEN SIE DIESEN MANN GESEHEN?
    Unter der Schlagzeile befand sich eine Phantomzeichnung, bei deren Anblick Julian zunächst in Panik geriet. Doch je länger er sie betrachtete, umso ruhiger wurde er. Er konnte eine entfernte Ähnlichkeit feststellen, doch die Zeichnung traf an keiner Stelle ins Schwarze. Tatsächlich würde diese wenig bemerkenswerte Darstellung besser auf einige Tausend andere Menschen zutreffen als auf Julian.
    Wenn er seine Frisur auf der Zeichnung betrachtete, dann war Julian schnell klar, dass er jemandem an dem Abend in Henry’s Hideaway aufgefallen sein musste, als er Connor Stevens getroffen hatte. Das war das einzige Mal, dass er sein Haar so auffällig gestylt hatte.
    Er versuchte sich daran zu erinnern, wen er getroffen oder mit wem er so lange gesprochen hatte, dass derjenige sich so genau an sein Aussehen erinnern konnte. Doch außer dem

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