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Keine Gnade

Keine Gnade

Titel: Keine Gnade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Annechino
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nicht hören, aber ich habe dir noch etwas zu sagen. Seit Jahren nagt es an mir. Ich habe nie versucht … Kusine Rebecca etwas anzutun. Es war genau andersherum. Dad und du, ihr wart so abweisend. Vermutlich, weil ihr dachtet, ich hätte es getan. Aber ich schwöre dir, ich war das Opfer. Ich möchte nur, dass du das weißt.«
    Als er ihr Gesicht wieder zudeckte und das Zimmer verlassen wollte, überkam Julian ein sonderbares Gefühl. Er konnte nicht verstehen, warum die Ärzte mit all ihrem medizinischen Fachwissen seine Mutter nicht hatten retten können. Und als ob eine mysteriöse fremde Macht Besitz von ihm ergriff, zog er das Laken zurück und fing an, sie zu reanimieren, wobei er dieselbe Technik anwendete, die er vorher beobachtet hatte.
    Wieder und wieder drückte er fest auf den Oberkörper seiner Mutter, versuchte verzweifelt, sie wieder zum Leben zu erwecken. Er hörte es knacken, offenbar waren es Rippen, die brachen. Trotzdem fuhr er fort, ihren Oberkörper zu bearbeiten. Von Zeit zu Zeit hielt er kurz inne, legte sein Ohr an ihre Nase, um festzustellen, ob sie atmete, und fühlte mit dem Finger seitlich an ihrem Hals nach einem Puls. Er machte mit seinen Wiederbelebungsversuchen weiter, bis seine Arme so weh taten, dass er sie kaum noch bewegen konnte.
    Â»Bitte wach auf, Mam. Bitte.«
    Gerade als er aufgeben und das Laken wieder über das Gesicht seiner Mutter ziehen wollte, öffneten sich die Augen seiner Mutter und schienen ihn direkt anzublicken. Noch bevor er reagieren konnte, kamen zwei Schwestern ins Zimmer gerannt und nahmen ihn beide an einem Arm.
    Â»Junger Mann, du solltest eigentlich nicht hier drin sein.«
    Â»Sie lebt. Meine Mutter lebt !«
    Â»Bitte, mein Sohn«, sagte eine der Schwestern. »Du wirst diesen Raum sofort verlassen.«
    Â»Aber sie lebt! Ihre Augen sind offen. Sie schaut mich direkt an.«
    Â»Es tut mir leid, mein Sohn, aber sie lebt nicht . Ihre of­fenen Augen sind nur ein Reflex.«
    Die Schwestern versuchten, Julian aus dem Zimmer zu führen, doch er ließ sich nicht dazu bewegen. Vom Flur kam ein Sicherheitsmann herein, weil er den Aufruhr bemerkt hatte, und zog Julian, nachdem er sich über die Vorgänge informiert hatte, buchstäblich aus dem Zimmer.
    Während der nächsten Monate versuchten alle ihn davon zu überzeugen, dass er seine Mutter nicht wiederbelebt hatte. Aber er wusste es besser. Er hatte sie reanimiert, und niemand konnte ihn vom Gegenteil überzeugen. Er hatte nun das Gefühl, über eine spezielle Gabe zu verfügen, und fände es tragisch, diese außergewöhnliche Fähigkeit zu verschwenden. Ursprünglich hatte Julian Chemielehrer an einem College werden wollen, doch er verstand das Vorgefallene als göttlichen Fingerzeig und war fest davon überzeugt, eines Tages ein begabter Kardiologe zu sein, der sich auf die Forschung zum Vorhofflimmern spezialisierte.

    Als Sami ein Klopfen an der Haustür hörte, blickte sie auf die Uhr über dem Fernseher. Wow, dachte sie. Fast zwei Uhr in der Frühe. Seit ihrem Martyrium bei Simon war sie übervorsichtig und ein wenig paranoid und schaute erst durch den Türspion. Sie war erleichtert, als sie Emily erblickte.
    Â»Na du«, sagte Sami, »ich komme mir vor wie eine Siebenjährige, die sich gerade einen gruseligen Film angeschaut hat.«
    Emily kam herein, und Sami machte die Tür zu und schloss ab. Sie setzten sich beide auf die Couch vor den Fernseher.
    Â»Du hast einen ganzen Haufen Mist am Hals, Kus«, sagte Emily. »Du bist für alle immer der Fels in der Brandung gewesen. Es wird langsam Zeit, dass du dich zur Abwechslung mal bei bei jemandem anlehnst.«
    Â»Aber du weißt, wie verdammt gern ich unabhängig bin. Ich hasse es, mich auf jemanden verlassen zu müssen.«
    Â»Dann musst du dir das abgewöhnen, Kus. Man nennt so etwas Menschsein.«
    Â»Du bist viel zu weise für dein Alter, Emily.«
    Â»Und das habe ich zu einem großen Teil dir zu verdanken.«
    Bis vor vier Jahren, als Emily für ihre Schwesternausbildung in San Francisco aufs College gegangen war, hatte Sami viel Zeit mit ihr verbracht. Sami war mehr Ersatzmutter für sie als Kusine. Seit Emily vor kurzem ihren Abschluss gemacht hatte, lebte sie in einem kleinen Apartment in East San Diego. »Du kannst es dir aussuchen: Corona Lite. Dos Equis Amber. Oder wir machen uns eine Flasche

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