Keine große Affäre
Entschuldigung, aber Sie sehen ohne das rote Kleid so anders aus!« Sein
Gesicht verwandelte sich in ein so strahlendes Lächeln, daß sie merkte, wie sie
rot wurde. Die Schwestern müssen ihn lieben, dachte sie.
»Wie geht es ihm?« fragte er sie und
zeigte auf ihren Vater.
»Ich dachte, das könnten Sie mir vielleicht sagen«, antwortete sie scherzhaft.
»Oh, tut mir leid«, sagte er und
näherte sich dem Bett. »Wir haben diese Angewohnheit, mit Singsangstimme mit
den Angehörigen zu reden. Es ist die einzige Möglichkeit, wenn man es taugaus
tagein tun muß, fürchte ich. Verzeihen Sie mir?« Mechanisch nahm er die Notizen
am Fußende in die Hand.
»Natürlich«, sagte sie. »Aber ich
würde gern Ihre Meinung hören. Ernsthaft. Ich meine, muß er sterben?« Ihre
Stimme wurde zu einem Flüstern, als sie das letzte Wort sagte, falls ihr Vater
sie hören konnte.
Für den Bruchteil einer Sekunde bekam
Stephens Gesicht Mitleidsfalten, dann kehrte die unpersönliche, professionelle
Arztmaske zurück. »Wir müssen alle sterben«, sagte er.
»Ja, das weiß ich auch«, sagte Ginger
verärgert und dachte, daß sie es viel mehr haßte, von oben herab behandelt zu
werden, als die Wahrheit zu wissen.
Stephen sah sie ruhig an, lange Zeit,
wie es schien, und suchte nach Anzeichen psychischer Labilität, dachte sie. Er
ging zur Tür.
»Manchmal geschehen auch Wunder«,
sagte er schließlich. »Aber nicht sehr oft.«
»Oh«, sagte sie, und ihr wurde klar,
daß die Wahrheit tatsächlich schlimmer war als der übliche ausweichende Unsinn,
den sie einem an den Kopf warfen.
Sie starrte ihren Vater an und sah
dann aus dem Fenster, auf die Dächer und in den Himmel. Draußen war es still.
Ostersonntag in der Stadt. Es war unmöglich, sich die Welt ohne ihren Vater
vorzustellen. Selbst jetzt, wo er hier so still lag, war er im Zentrum der
Aufmerksamkeit.
Als sie wieder zur Tür blickte, war
Stephen weg, und sie fragte sich, ob sie ihn wirklich gesehen hatte.
Ein paar Minuten später erschien sein
Kopf wieder in der Tür.
»Kommen Sie!« Er gab ihr ein Zeichen.
»Ich habe gerade Pause, und Sie sehen so aus, als könnten Sie eine Tasse Tee
gebrauchen.«
»Ich hasse Tee«, sagte Ginger mürrisch.
»Wieso denken alle, daß Tee Probleme lösen kann?«
»Kaffee?« schlug Stephen vor.
»Ja, Kaffee«, sagte Ginger und folgte
ihm aus dem Zimmer.
Pic kam gerade mit ihrer Mutter aus
der Cafeteria zurück. Sie gingen schweigend aneinander vorbei, wie bei der Wachablösung
vor dem Buckingham Palast, aber Pic zog die Augenbrauen hoch, als sie sah, daß
ihre Schwester die Station mit dem gutaussehenden Professor verließ.
Ginger, der die ebenso überraschten
Blicke der Schwestern auffielen, eilte hinter ihm her und fragte: »Verstößt es
nicht gegen das Berufsethos, mit Angehörigen zu verkehren?«
Stephen lachte in sich hinein.
»Technisch gesehen ja, wahrscheinlich schon. Aber da ich nicht vorhabe, es
Ihnen im Wäscheschrank zu besorgen, oder, noch schlimmer, mit Ihnen über den
Patienten zu reden, nehme ich an, daß ich noch mal ungeschoren davonkomme...«
Er drehte sich um und lächelte sie an. Seine violetten Augen funkelten
humorvoll.
»Schade!« sagte sie halblaut.
Als sie die Kantine erreichten,
begleitete er sie an einen Tisch. Dann nahm er ruhig das Tablett mit den leeren
Chipstüten und dem schmutzigen Besteck und gab es höflich der Frau, die dabei
war, die Tische abzuwischen. Danach ging er zur Theke und kaufte Ginger einen
Kaffee und ein Stück Schokoladenkuchen.
»Jamjam! Sie sind ein richtiger
Gentleman!« sagte Ginger vergnügt.
Er lachte und setzte sich mit seinem
Tee ihr gegenüber.
Da er sie gerade informiert hatte, daß
er nicht mit ihr über ihren Vater sprechen durfte, und auch nicht besonders
gesprächig zu sein schien, hielt sie es für ihre Pflicht, das Gespräch zu
beginnen.
»Wie geht’s Alison?« fragte sie und
steckte sich einen Finger voll weichem, klebrigem Schokoladenguß in den Mund.
Sie schmeckte die rauhe, zuckrige Süße und freute sich, daß es in diesem
Krankenhaus etwas so Ungesundes zu essen gab.
»Gut. Nehme ich wenigstens an«,
antwortete er. »Sie ist an diesem Wochenende beruflich unterwegs. Ich hatte die
letzten beiden Tag frei, nur Ben und ich waren zu Hause, und ich muß sagen, es
war sehr schön. Heute kümmert sich Justine um ihn. Ich weiß nicht, was wir ohne
Justine tun würden. Es ist ziemliches Pech, daß wir am Osterwochenende beide
arbeiten müssen, oder schlechte
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