Keine große Affäre
ich
weg bin?« fragte Ginger mit tränenerstickter Stimme.
»Sie können nichts dagegen tun«,
wiederholte Stephen.
Im Taxi dachte sie über diesen Satz
nach. Stephen mußte glauben, daß ihr Vater starb, sonst hätte er etwas gesagt
wie: »Das ist unwahrscheinlich« oder »Das wird er nicht«. »Sie können nichts
dagegen tun« klang sehr endgültig. Sie zwang sich selbst, sich vorzustellen,
wie sie sich fühlen würde, wenn er sterben müßte. Erleichtert, dachte sie.
Erleichtert, daß er schnell gestorben war und nicht allzusehr hatte leiden
müssen. Erleichtert, daß er nicht aufgewacht war und nur noch vor sich
hinvegetierte. Sie hatte mit Pic nicht über diese Möglichkeit gesprochen, aber
sie wußte, daß sie beide so empfanden.
Sie können nichts für ihn tun. Aber
Anouska konnte sie helfen. Das war es, was Stephen impliziert hatte. Bevor sie
das Krankenhaus verließ, hatte sie Lia angerufen und ihr gesagt, sie sollte die
Kinder fertig machen. Sie versuchte, ruhig zu klingen, aber Lia war trotzdem in
Panik geraten. Glücklicherweise herrschte extrem wenig Verkehr, und sie kam
eine halbe Stunde nach ihrem Anruf dort an.
Anouska sah so winzig aus, wie sie
dort im Krankenhausbett lag. Sie hatten Gitter daran angebracht, damit sie
nicht herausfallen konnte, aber der Abstand zwischen ihr und den Gitterstäben
war so groß, daß man sich nicht vorstellen konnte, daß so ein zerbrechliches,
kleines Ding so weit rollen könnte. Und die Schläuche, Infusionsapparate und
Drähte hielten sie doch ganz sicher fest. Sie hatten ihr Immunglobulin
verabreicht. Intravenös. Als sie endlich eine Kanüle in ihren winzigen Knöchel
bekommen hatten und die Flüssigkeit in ihren Körper floß, hatte Lia die große
Hoffnung verspürt, daß Anouska, sobald sie ihre Medikamente bekam, die
Krankheit, die sie so teilnahmslos gemacht hatte, sofort abwerfen und sich in
das friedfertige, lächelnde Kind zurückverwandeln würde, das sie normalerweise
war. Aber es gab keine plötzliche Veränderung. Es gab überhaupt keine.
Nachdem Lia viele Stunden lang befragt
worden war und viele verschiedene Leute Anouska untersucht hatten, vom
Assistenzarzt bis zum leitenden Oberarzt, war sich das Krankenhaus über die
Diagnose einig. Kawasaki-Symdrom, wie Stephen vermutet hatte. Es handelte sich
dabei um einen entzündlichen Prozeß, erklärte der Facharzt ihr, für den es
keine Heilung gab, aber wenn die Krankheit früh genug behandelt wird, konnten
mögliche Komplikationen verhindert werden. Sie hatten sie immer wieder gefragt,
wann sich die ersten Symptome gezeigt hatten. Sie versuchte sich zu erinnern,
aber die Tage verschwammen miteinander, und sie war sich einfach nicht sicher.
Es war wichtig, sagten sie zu ihr. Vor ein paar Tagen, glaubte sie. Oder
vielleicht auch länger. Kommt darauf an, was Sie mit ersten Symptomen meinen.
Sie gingen es noch einmal durch. Es war wie bei einem Verhör. Bitte sagen Sie
mir, was Sie hören wollen, und ich sage es, hätte sie am liebsten gerufen. Sie
verstand plötzlich, wie es dazu kam, daß Menschen, die unter Streß standen, vor
Autoritätspersonen falsche Geständnisse ablegten.
»Mögliche Komplikationen«, »früh
genug«, das waren so vage Begriffe, und wenn sie herauszubekommen versuchte,
was das genau bedeutete, wurde sie freundlich in ihre Schranken gewiesen.
Schließlich hatte sich eine Ärztin im weißen Kittel mit ihr hingesetzt und ihr
erklärt, es sei noch zu früh zu sagen, welchen Schaden Anouska fortgetragen
haben konnte. Sie versuchten, einen Termin für weitere Untersuchungen im
Great-Ormond-Street-Hospital zu bekommen.
Sie stellten Lia in dem kleinen
Zimmer, in dem Anouska lag, ein Bett zur Verfügung, und sie saß darauf und
starrte ihr Kind an. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Eine tiefe
Furcht, die sie noch nie zuvor verspürt hatte, lähmte sie. Sie ließ sie am Bett
festkleben, machte es ihr unmöglich, sich zu bewegen oder sich auch nur hinzulegen.
Sie hatte panische Angst einzuschlafen, falls etwas, sie wagte gar nicht sich
auszumalen, was, passierte, und niemand über ihre Tochter wachte. Es war
sowieso erst Spätnachmittag, noch keine Schlafenszeit, sah sie, als sie auf die
Uhr blickte. Es hätte jede Tages- und Nachtzeit sein können. Das Fenster war
aus Milchglas, und das Krankenhaus hatte seinen eigenen Tagesablauf, ohne jede
Beziehung zur Außenwelt. Die Krankenschwestern waren sehr beschäftigt. Ab und
zu steckte eine den Kopf durch die Tür und fragte,
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