Keine große Affäre
zwanzig Jahren ihrer Mutter widersetzt hätte.
Wenn sie stark genug gewesen wäre, nur ein einziges Mal, dann wäre es nie
geschehen. Aber sie war schwach gewesen. Das war sie schon immer, und jetzt
hatte sie sein Leben zerstört, nicht nur einmal, sondern gleich zweimal. Und
ihr eigenes gleich dazu.
Die Flut kam und drängte sie zum
Strand zurück. Wenn sie mutig wäre, dachte sie, würde sie ins Meer laufen und
immer weiter gehen. Aber sie war nicht mutig. Das Wasser wäre bestimmt kalt,
und sie wollte nicht sterben. Sie dachte an Ben, wie er in seinem Bettchen
schlief, und daran, wie sehr sie ihn liebte. Er würde sie vermissen, selbst
wenn er nicht wissen würde, was er eigentlich vermißte, und das konnte sie ihm
nicht antun. Eines Tages würde er erkennen, wie schwach und egoistisch sie war,
und er würde sie hassen, genau wie sie ihre Mutter gehaßt hatte, so viele Jahre
lang. Doch bis dahin mußte sie am Leben bleiben. Für ihn.
Sie hatte überhaupt nicht gewußt, wie
sehr sie ihren Sohn liebte, bis sie von Anouskas Krankheit erfuhr. Erst zu diesem
Zeitpunkt, als sie sich wegen einem anderen Menschen so schlecht gefühlt hatte,
war ihr aufgegangen, wieviel schlechter sie sich fühlen würde, wenn sie ihn
verlieren würde. Sie hatte Leuten nie geglaubt, die behaupteten, daß
schreckliche Dinge immer aus einem bestimmten Grund geschehen, und sie nicht
einmal verstanden, aber jetzt wurde ihr klar, warum sie es sagten. Die Wahrheit
war schlicht und ergreifend, daß Anouskas Leid sie zu der Erkenntnis gezwungen
hatte, wie sehr sie ihren Sohn liebte. Dieses Wissen ließ sie jedoch nicht
schlagartig an Gott glauben. Sie fand vielmehr, daß es ein seltsamer,
bösartiger Gott sein mußte, der einen unschuldigen Menschen leiden ließ, um
einem überheblichen Menschen zu zeigen, wieviel Glück er hatte. Aber sie verstand
jetzt, wie noch nie zuvor, was das Symbol der Kreuzigung bedeutete. Ben,
lebendig und gesund, war das größte Geschenk. Wenn sie seine kräftige, kleine
Gestalt betrachtete, verspürte sie eine immerwährende Dankbarkeit. Er hatte sie
über Wasser gehalten, als sie das Gefühl hatte unterzugehen.
Die Sonne leuchtete golden am
Horizont. Die blasse Lichtflut würde bald verschwinden. Sie saß auf der kalten
Steinmauer an der Straße, wo ein paar kleine Strandgeschäfte in einer Reihe
standen, und aß Pommes aus Zeitungspapier. Der Geruch von gebratenem Fisch, der
Geschmack von Essig, das Klingklingkling der Boote im Hafen — all das erinnerte
sie an Urlaubstage vor langer Zeit. Sie verspürte große Sehnsucht nach dieser
unschuldigen Zeit, als ihr größtes Problem darin bestand, wann sie am besten
ihr zweites Eis am Tag essen sollte. Damals war das Leben einfach gewesen.
Einen Augenblick lang blieb die Zeit
stehen, und sie fühlte sich ruhig und entspannt. Sie beobachtete die Schwäne,
die im letzten Abendlicht unwirklich weiß waren, wie sie still auf dem sanft
wogenden, dunklen Wasser schwammen.
In den letzten Tagen, beim Spielen mit
Ben im Garten ihrer Mutter, hatte sie eine ähnliche Einfachheit erfahren. Man
sah die Dinge in ganz anderem Licht, wenn man versuchte, sie einem Kind zu
erklären. Blumen, Marienkäfer, eine dicke Hummel — alles erschien ungeheuer
interessant und lebendig. Vielleicht war es das, was mit der Redewendung »durch
die Kinder leben« gemeint war. Vielleicht war das gar keine so schlechte Lebensweise.
Vielleicht konnte das Leben wieder
einfach werden, wenn sie sich nur selbst davon abhalten könnte, sich von der
Unterströmung der Vergangenheit in die Tiefe ziehen zu lassen. Sie erinnerte
sich an Mrs. Goode, die Therapeutin, die ihr vor zwanzig Jahren geholfen hatte.
Sie hatte gesagt, daß es manchmal einfacher war, sich in Depressionen fallen zu
lassen, als die Herausforderung anzunehmen, sich selbst wieder herauszuziehen.
Das war eine Methode, sich vor der Verantwortung für sein eigenes Leben zu
drücken. Alison stand auf und atmete tief durch. Sie wurden alle älter, selbst
Ben, und sie mußte sich entscheiden: Sie konnte ihrer aller Leben durch ihre
Gewissensbisse zerstören oder mit der Vergangenheit abschließen, sich das, was
von ihrem Leben noch übrig war, schnappen und versuchen, etwas damit
anzufangen. Sie knüllte das Pommespapier zu einer Kugel zusammen und zielte
lässig auf einen Mülleimer. Als sie warf, wurde es plötzlich ungeheuer
bedeutungsvoll, ob die Papierkugel ihr Ziel erreichen würde oder nicht. Sie
erstarrte. Ihr Blick folgte der
Weitere Kostenlose Bücher