Keine große Affäre
es noch nicht so weit, und sie war ganz
offensichtlich entschlossen, den Zeitpunkt so lange wie möglich
herauszuschieben. Alison merkte, daß sie sie dafür bewunderte. Der Tod von
Gingers Vater hatte ihr plötzlich ins Bewußtsein gerufen, wie wenig Zeit ihr
noch mit ihrer Mutter blieb. Sie wollte erwachsen genug sein, diese Zeit
genießen zu können, und sie nicht mit sinnlosen Beschuldigungen zu vergeuden,
die Vergangenes betrafen.
An dem Wochenende, bevor sie an die
Küste gefahren war, hatte sie Ginger bei Waitrose getroffen. Als erstes hatte
sie Guy entdeckt, der aufrecht wie ein Kleinkind im Einkaufswagen saß, und dann
war ihr bewußt geworden, daß sie an Ginger vorbeigelaufen war, weil sie so
anders aussah. Es war gar nicht so sehr ihr trauriges, blasses Gesicht, sondern
ihre ganze Haltung. Normalerweise konnte man Ginger aus hundert Metern
Entfernung erkennen. Sie hatte einen federnden Gang und strahlte solche
Offenheit und Freude aus, daß sie sich von allen anderen abhob. Doch jetzt
schien sie niedergeschlagen und gebeugt.
»Danke für deine Karte«, hatte sie
gesagt und sich auf die paar mitfühlenden Worte bezogen, die Alison ihr
geschrieben hatte.
»Wie geht es dir?« hatte Alison
gefragt.
»Ach, ziemlich mies«, hatte Ginger
geantwortet und nach vorne gestarrt, ohne sie richtig anzusehen. »Die
Traurigkeit wird irgendwann vergehen, aber die Schuldgefühle nicht...«
Alison hatte schweigend genickt. Sie
hatte ihren Vater nie richtig gekannt oder gar gemocht. Doch als er starb,
stellte sie fest, daß sie eine Menge Fragen an ihn gehabt hatte, derer sie sich
gar nicht bewußt gewesen war und die jetzt unbeantwortet blieben. Sie verstand
das mit den Schuldgefühlen. Sie verließen einen niemals ganz. Man lernte mit
ihnen zu leben, aber sie waren immer da.
»Wollen wir einen Kaffee trinken?«
hatte Alison vorgeschlagen.
»Nein, danke«, sagte Ginger und sah
sie plötzlich mit einem Stirnrunzeln an. »Nein, ich möchte keinen, danke«, und
sie hatte sich abgewandt, ohne auf Wiedersehen zu sagen.
Alison hatte nicht darauf bestanden.
Es gab nichts Schlimmeres, als von jemand anderem zu hören, er wisse, wie man
sich fühle. Manchmal wollte man einfach nur in Ruhe gelassen werden, wenn man
unglücklich war.
In der Ferne explodierte eine
Lichterkette, die an der Strandpromenade zwischen Laternenpfählen gespannt war,
zu glühenden, bunten Sternchen. Die Sonne glitt langsam durch die weiche, hohe
Wolke und verfärbte den Himmel blaurosa. Es war die Zeit am Abend, wo sogar
glückliche Menschen einen Augenblick darüber nachgrübelten, wie kurz das Leben
war, und traurige Menschen seufzten, weil schon wieder ein Tag vergangen war.
Alison spürte, wie der warme, salzige Wind ihr die Tränen aus den Augen wehte.
Zum tausendsten Mal fragte sie sich,
wieso sie so destruktiv gewesen war. Was hatte sie dazu getrieben, ihr Glück
nicht anzunehmen und das Leben eines anderen Menschen zu zerstören? Vielleicht
hatte ja wirklich das Schicksal Neil und sie wieder zusammengeführt, aber es
hatte sie nicht in seine Arme geworfen und ihnen eine Wohnung bereitgestellt,
in der sie sich liebten, oder ihn weggelockt, als sein Kind in Gefahr war. Das
war sie gewesen. Und jetzt haßte er sie. Aber nicht so sehr, wie sie sich
selbst haßte.
Seitdem sie sich am Waterloo-Bahnhof
zum Abschied geküßt hatten, hatte sie nur einmal mit ihm gesprochen. Sie hatten
beide gewußt, daß es vorbei war, und sie hatten beide geglaubt, sie könnten
einfach weiterleben, als sei nichts geschehen. Wie überheblich sie gewesen
waren.
Spät in der Nacht, als Stephen
eingeschlafen war, hatte sie sich nach unten zum Telephon geschlichen und noch
einmal seine Nummer gewählt. Er hatte sofort abgenommen.
»Hallo«, sagte sie.
Sekundenlang antwortete er nicht. Dann
sagte er: »Ich dachte, es wäre vielleicht das Krankenhaus.«
»Ich wollte nur, daß du weißt, daß ich
an dich gedacht habe...« hatte sie stockend gesagt.
»Ich will nicht, daß du jemals wieder
an mich denkst.«
»Ich weiß, ich weiß.« Alison fing an,
ins Telephon zu schluchzen. »Ich fühle mich so schrecklich.«
»Das tust du nicht«, sagte Neil kalt.
»Du weißt gar nicht, was es heißt zu fühlen... Bis zum heutigen Nachmittag
wußte ich nicht einmal ansatzweise, was fühlen bedeutet...«
Und dann hatte er aufgelegt.
Es war alles ihre Schuld. Wenn sie
doch an Silvester stark genug gewesen wäre, der Versuchung zu widerstehen. Wenn
sie sich doch in jenem Sommer vor
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